Rabenblut drängt (German Edition)
Beispiel.«
»Und wie ist es in Gefangenschaft?«, fragte ich zweifelnd. »Wie alt können sie da werden?«
»Das ist natürlich was anderes! In Gefangenschaft werden sie etwa so alt wie ein Gänsegeier oder ein Uhu. Mit viel Glück und Rückenwind vielleicht fünfzig oder sechzig Jahre.«
Das klang doch schon viel besser, dachte ich erleichtert. Ich musste Alexej unbedingt fragen, ob das auch für ihn galt. Außerdem wollte ich unebdingt wissen, ob es sich als Rabe frei fühlte, und ob, im Umkehrschluss, ihn sein Leben als Mensch einschränkte. Kostete es ihn Überwindung ein Mensch zu bleiben, nachdem er die letzten Jahre ausschließlich als Rabe gelebt hatte? Ein Leben, das voller Freiheit aber auch voller Wagnisse war?
Wie leicht hätte er von irgendwelchen Raubvögeln getötet werden können, oder von Menschen erschossen! Außerdem konnten Raben ja durchaus auch krank werden, dachte ich bestürzt. Sie konnten von Parasiten befallen werde, die Vogelgrippe bekommen oder sonst was! Oder sie fraßen vergiftete Köder.
Mir wurde übel bei dem Gedanken, wie gefährlich Alexejs Leben als Rabe war.
»Hat dir eigentlich das Konzert gefallen?«, fragte Lara plötzlich, und brachte mich ganz aus meiner Konzentration.
»Und jetzt frag nicht: welches Konzert denn!«
»Es war wunderschön«, sagte ich. »Und dabei hätte ich nie gedacht, dass ich mir so was mal freiwillig anhören würde. Ich glaube, ich muss meinen Musikgeschmack überdenken. Aber ich habe Nikolaus gar nicht gesehen. Hat er überhaupt mitgespielt?«
»Hat er. Er war es auch, der uns die Karten geschickt hat, wir haben mit ihm gesprochen.«
»Ist ein cooler Typ«, ließ sich Timo vernehmen.
»Du findest jemanden cool, der Violine spielt?«
»Klar, wieso nicht. Das rockt.«
Ich bekam große Augen. Mein Bruder konnte mich wirklich noch überraschen.
Lara nickte. »Ich habe ihn zuerst gar nicht erkannt. Okay, er hatte auch einen Anzug an, da sieht man die Tattoos ja schlecht. Wusstest du, dass er zwei Töchter hat?«
»Nein, keine Ahnung.«
»Er hat uns die ganze Zeit von ihnen vorgeschwärmt. Alexej hat die letzten Wochen wohl bei ihnen gewohnt. Nikolaus sagte, seine Mädchen würden ihn vergöttern. Was mich auch nicht weiter wundert, weil er angeblich stundenlang mit ihnen Pferderennen veranstaltet hat.«
Ich versuchte mir das bildlich vorzustellen, aber es gelang mir nicht. »Wirklich?«
»Er gibt der Älteren, ihren Namen habe ich vergessen, Klavierunterricht. Nikolaus hat sich darüber lustig gemacht, weil Alexej sie auf den Tasten alle möglichen Tierstimmen imitieren lässt. Aber sie findet es wohl ziemlich toll.«
»Das würde ich gerne sehen.«
»Er wünscht sich auch eine Familie.«
»Wer?«
»Alexej.«
»Bitte was?« Ich verschluckte mich fast an diesem Brocken. Lara grinste breit und drehte sich dann wieder nach vorne, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Sicher wollte sie mich damit nur necken. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass Nikolaus ihr so was erzählt haben könnte.
Alexej war schließlich ein Rabe.
Ein Rabe!
Ich versuchte erst einmal zu erfassen, wie seine Existenz überhaupt möglich war. Wie konnte er sich verwandeln? Und was war das für ein Gefühl? Einen weiteren Gedanken an die Zukunft wagte ich noch gar nicht zu denken!
Ich starrte aus dem Seitenfenster. Es hatte angefangen zu nieseln und in der Ferne hörte ich schwaches Donnergrollen. Timo stellte die Scheibenwischer ein.
Gegen Mitternacht waren wir zuhause. Wir sagten Lara gute Nacht und schleppten uns müde in meine Hütte. Timo ließ sich samt Klamotten auf das Bett fallen, und ich zog mir als Erstes diese verhassten Schuhe aus. Himmel, wie gut das tat wieder frei gehen zu können! Meine Zehen kribbelten wegen des plötzlichen Blutüberschusses und ich hüpfte ein paar Mal auf der Stelle.
»Soll das ein Tanz werden?«, fragte Timo muffig.
Ich warf einen der Schuhe nach ihm, aber er wich geschickt aus.
Wir hörten hastige Schritte die Außenstufen hinaufpoltern. Die Tür wurde aufgerissen, ohne dass ich vorher ein Klopfen gehört hätte.
»Marek ist nicht da!«, verkündete Lara aufgeregt.
»Wie, Marek ist nicht da?«
»Er ist nicht im Haus. Auch nicht in einem der Nebengebäude, da habe ich überall nachgeschaut. Aber sein Rechner ist noch an und überall brennt Licht.«
»Hast du mal im Bad nachgesehen, vielleicht ist er nur auf dem Klo?«, versuchte ich behilflich zu sein. Sie warf mir einen Blick zu, der mir klar machte, wie
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