Rabenblut drängt (German Edition)
er.
Wundfessel
E s war nicht schwierig für mich, das Gebäude, in dem ich schlief, unbemerkt zu verlassen. Die Nacht war einsam und still, unnatürlich still. Ich hörte nicht einmal ein Knacksen im Holz oder das Summen eines der vielen Elektrogeräte. Auch die Geräusche, die normalerweise von draußen gegen die Fensterscheiben wehten, waren verstummt.
Diese Stille hatte mich geweckt, hatte meine Ohren wachsam werden und mich atemlos lauschen lassen. Ich wollte die Gelegenheit nutzen und schlich an den verlassenen Räumen vorbei, wo sonst Schulklassen und andere Besucher des Nationalparks untergebracht waren. Es gab sechs Zimmer, je nach Größe mit vier bis fünf Betten und im Keller einen Gemeinschaftsraum mit Fernseher. Ich dürfte ihn gerne benutzen, wenn mir in den Abendstunden langweilig sein sollte, hatte Marek mir angeboten. Aber das reizte mich nicht. Viel mehr interessierte mich das Klavier, das in einer Ecke an die Wand geschoben war und nach altem Staub roch. Es war nicht völlig verstimmt, wie ich zuerst befürchtet hatte. Man würde also nicht nur Garland’s und Razaf’s In the mood darauf spielen können. Ich ließ meine Finger zart über die Tasten gleiten, fühlte die Kälte des alten Elfenbeins unter meinen Fingerkuppen und das glatte Ebenholz der Zwischentöne.
Aber meine Finger waren starr wie knorrige Äste. Die Sehnen unflexibel und steif. Gleich eines zugefrorenen Baches, der einst in wildem Staccato über die Kiesel gesprungen war. Ich schaute auf meine Hände hinab und ballte sie zu Fäusten, bevor ich den Klavierdeckel wieder zuklappte.
Dann verließ ich den Aufenthaltsraum und stieg die Treppe hinauf. Alle Räume waren tot. Tagsüber würde zumindest in der Küche Leben herrschen, wenn Michala darin werkelte. In den wenigen Tagen seit meiner Ankunft hatte ich die meisten von Mareks Mitarbeitern kennengelernt. Erst hatte ich befürchtet, dass es mir schwerfallen würde, meine Rolle als Rekonvaleszent glaubwürdig zu spielen, noch dazu eine Rolle ohne Erinnerung, aber mein jahrelanges Schwarmleben war mir zugutegekommen.
Meine erste Gelegenheit, Sympathie zu erlangen, war fast schon zu einfach gewesen: Ich musste nur Marek um Hilfe bitten. Er war verantwortungsbewusst, kein Schwätzer, sondern ein Mann mit einer geerdeten Logik. Warmherzig, freundlich und nicht uneitel. Die Möglichkeit, mir seine Hilfe anzubieten, hatte ihn erfreut.
Das war eine der vielen Lektionen gewesen, die ich damals gelernt hatte: Wenn du willst, dass dir jemand mit Sympathie begegnet, bitte ihn um einen persönlichen Gefallen. Bei Marek hatte es funktioniert und auch seine Frau Lara war nicht schwer zu überzeugen gewesen. Eine gezielte Schmeichelei an der richtigen Stelle hatte ausgereicht.
Und jetzt durfte ich so lange bleiben, bis ich vollständig genesen war. Ich verfolgte kein höheres Ziel mit dieser harmlosen Manipulation, eigentlich war sie mir sogar zuwider, denn ich mochte die beiden. Aber was ich wollte, war gesund und flugfähig werden, damit ich meinen Schwarm nicht in Gefahr brächte. Und ich wollte Pavel nach Hause bringen.
Ich verließ das Haus durch den vorderen Eingang, lehnte die Tür nur an, und schlug den Weg Richtung Wald ein. Ich hatte Mareks Jacke in meinem Zimmer zurückgelassen, weil ich sie nicht brauchen würde, ebenso wenig wie die anderen Sachen, die ich am Leibe trug. Wie angenehm es sein würde, sie loszuwerden!
Meine Füße schritten schneller aus. Ich hatte es eilig, meine Gestalt zu wandeln. Ich sehnte mich danach, die Welt wieder als Vogel wahrzunehmen. Es war nur ein Versuch. Ich spürte den Druck des Verbandes umso fester, je mehr ich danach strebte, ihn zu vergessen.
Er schnürte mich, er fesselte mich, er schien mich in diesem fremden Körper gefangenzuhalten wie die Lederriemen, die einen Falken an seinen Falkner banden.
Im Gehen zog ich mir den Pullover aus und warf ihn über eine Astgabel. Aus diesen engen Jeans zu kommen, war nicht so einfach. Wer hatte sich nur einfallen lassen, diese primitiven Arbeiterhosen gesellschaftsfähig zu machen? Ich ließ alles am Baum zurück und lief nackt über den Waldboden. Nadeln stachen mich in die Fußsohlen und das Herbstlaub knisterte. Mein Atem blies weiße Fahnen in die klare Nachtluft.
Ich rannte schneller. Dorniges Gestrüpp riss mir die Haut auf, aber ich spürte dabei nur, wie lebendig ich war. Die Nadelbäume flogen schemenhaft vorbei, und die Schwere meiner Glieder fiel von mir ab. Ich reckte
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