Rabenblut drängt (German Edition)
als befürchtete ich, dass sie sich angeekelt von mir abwenden könnte. Aber sie lächelte, wenn auch nicht ganz so selbstsicher wie sonst.
»Was glaubst du, wie viel er wiegt?«, fragte sie, aber ohne mir dabei in die Augen zu sehen.
»Vermutlich an die hundert Kilo«, antwortete ich beinahe zu schnell.
»Ist das jetzt ein Zwölfender? Oder wie heißt das immer in diesen Heimatfilmen?«
Sie hatte einen naiven Ton angeschlagen, der mich wohl dazu bewegen sollte, näher darauf einzugehen.
»Ein ungerader«, erwiderte ich. Wusste sie das nicht ebenso gut wie ich? Schließlich war sie doch die Biologie-Studentin. Ich schlenderte an ihr vorbei, aber sie folgte mir.
»Ein ungerader?« Wieder so naiv, fast lieblich. Ich brauchte sie nicht anzusehen, um zu wissen, dass sie lächelte.
»Er hat nur an einer Seite sechs Geweihenden.«
Sie seufzte, als wäre sie enttäuscht, dass ich nicht mehr preisgab. Ich konnte schlecht zugeben, dass das letzte Jahrzehnt meines Lebens nur aus der Jagd bestanden hatte - der Jagd nach Tieren, nach Nahrung. Und aus der Jagd nach Freiheit, nach Seelenfrieden. Dies jemandem anzuvertrauen, hieße alles zu verraten.
»Wir müssen noch Mareks Falle finden«, erinnerte ich sie.
»Das habe ich schon.«
Ich hob überrascht eine Augenbraue an.
»Als du am Bach warst«, erklärte sie ausweichend. »Kein Luchs. Zumindest bis jetzt nicht. Die Chance besteht aber noch ein paar Tage.« Sie blieb auf einmal stehen.
»Sollen wir zurück? Du frierst sicher.«
Ich folgte ihrem Blick und spürte erst jetzt die Kälte meine Beine hochkriechen.
»Nein, es geht schon«, sagte ich, die Gänsehaut ignorierend. Ich wollte nicht zurück, ich fühlte mich wohl im Wald. Es war mein Zuhause, oder zumindest das, was einem Zuhause innerhalb meines Schwarms am nächsten kam.
»Dann können wir uns ja noch ein wenig umschauen«, sagte sie erleichtert. »Ist eigentlich seltsam, den Hirsch hier zu finden. Er bewegt sich doch viel lieber im offenen Gelände.« Sie hob den Kopf. »Du weißt ganz schön viel über Wild. Warst du schon einmal jagen?«
Netter Versuch. Ich überlegte, ob es nicht besser wäre, sie mit Humor abzufertigen und ließ meine Zähne aufblitzen.
»Selbstverständlich. Ich bin immer auf der Jagd, wie alle Männer.«
Natürlich bekam sie einen roten Kopf. Diese Plumpheit war durchaus gewollt. Sie würde Isa von ihren Fragen ablenken. Trotzdem machte ich ihr ein Zugeständnis. »Du weißt doch, dass ich mich nicht daran erinnern kann.«
»Das hast du behauptet. Aber ehrlich gesagt, ich nehm dir das nicht ab.«
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie das so offen aussprechen würde, und stockte kurz. »Und weshalb nicht? Denkst du, es gefällt mir, Mareks und Laras Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen?«
»Nein«, sagte sie schnell. »Aber du verheimlichst etwas.«
»Und was bitte sollte das sein?«
»Ich habe keinen blassen Schimmer.« Sie schaute mich prüfend von der Seite an. »Was hat es eigentlich mit diesem Raben auf sich?«
»Er war mein Freund.«
Wie konnte ich nur so unbedacht sein und das zugeben? Damit bestätigte ich genau ihre Vorstellung vom einsamen Eremiten, der im Wald hauste, nur in Gesellschaft eines Rabenvogels. Ein Einsiedler, der schmutzig war, verwahrlost, wild. Ein kleiner Teil von mir würde sie gerne eines Besseren belehren - aber nur ein kleiner Teil.
Was spielte es schon für eine Rolle, was sie von mir dachte? Wichtig war allein, dass ich gesund wurde und Pavel nach Hause bringen konnte. Wichtig war, diese Rolle zu spielen. Möglichst glaubwürdig. Und wenn es eben die Rolle des Eremiten sein sollte, dann war es eben so.
»Und du? Bist du eine Jägerin, schöne Diana?«, fragte ich.
»Bitte?«
»Ach vergiss es einfach!«
Isas Blick war verunsichert, nein - skeptisch. »Du interessierst dich für griechische Mythologie?«
Ich seufzte. Warum hatte ich meinen Mund nicht halten können? Natürlich musste sie da nachbohren.
»Sagen wir es so: Es gab eine Zeit, da habe ich mich dafür interessiert.«
Völlig unerwartet fing sie schallend an zu lachen. »Sagte der bärtige Greis!«
Ich hatte sie nicht amüsieren wollen, musste ihr aber recht geben. Ich sprach wie ein alter Mann. Und doch - war es nicht so, dass mein Menschenleben schon verlebt war? Ich hatte nicht vorgehabt, dahin zurückzukehren, hatte bewusst mein Rabenleben gewählt und würde es sofort wieder tun - ohne Bedauern.
»Aber daran kannst du dich erinnern?«, hakte sie
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