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Rabenblut drängt (German Edition)

Rabenblut drängt (German Edition)

Titel: Rabenblut drängt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikola Hotel
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ruckartig zurück. Seine Haut glühte geradezu.
    »Du hast ja schon wieder Fieber«, rief ich aus. »Hoffentlich hast du dich nicht überanstrengt.«
    »Nein«, wehrte er ab und wollte sich an mir vorbei zur Tür drängen, aber ich hielt ihn am T-Shirt fest und befühlte seine Stirn.
    »Natürlich hast du Fieber! Du kannst mir nichts vormachen, ich habe einen kleinen Bruder, glaub mir, ich weiß, wann jemand Fieber hat!«
    Seine dunklen Augen verdüsterten sich, und er schob meine Hand fort. »Es ist nichts! Ich fühle mich wohl, alles ist gut«, sagt er mit einem beinahe drohenden Unterton.
    Einen Moment starrten wir uns wortlos an.
    »Es ist, weil du gestern Nacht wieder im Wald warst, nicht wahr?«
    Er beeilte sich plötzlich, an mir vorbei zu kommen. »Glaube mir, ich habe genau die Temperatur, die mein Körper braucht, und jetzt wäre ich dir sehr dankbar, wenn du mich entschuldigen würdest.«
    Ich fühlte mich elend. Wieso hatte ich meinen Mund nicht halten können? Und wieso konnte er sich nachts nicht in seinem Bett aufhalten wie jeder andere vernunftbegabte Mensch?
    Irgendwas passierte dort im Wald, was ihn krank zu machen schien, und doch zog es ihn immer wieder dort hinaus. Irgendwas zehrte an ihm, ließ ihn seltsame, vielleicht sogar triebhafte Dinge tun, die mir kleine Schauer über den Rücken jagten. Und ich hatte nicht die Spur einer Ahnung, was das sein könnte.

Blutdrang
     
     
     
    D er Buchdrucker befällt vor allem Fichten«, erklärte Isabeau. »Vorzugsweise die Gemeine Fichte, aber auch Lärchen, Douglasien, Schwarzkiefern, Weißtannen und andere Nadel- und Laubbäume. Normalerweise kann die Fichte durch die Absonderung von Harz, das sogar toxisch wirken kann, die Insekten abwehren. Allerdings schaffen das nur gesunde Bäume, die nicht durch Umweltbelastungen geschädigt sind.« Sie machte eine ausladende Geste.
    »Weiß jemand von euch, welche das sein könnten? Ich meine, welche Umweltbelastungen?« Sie schaute sich fragend um. Gähnen machte sich breit.
    Mit Mühe verbiss ich mir ein Grinsen. Gab es eine größere Strafe, als eine Schulklasse über das Waldsterben aufzuklären? Vermutlich nicht. Allerdings blieb die Frage bestehen, wer mehr bestraft wurde: Isabeau oder die Jugendlichen, die lustlos hinter ihr hertrabten. Jedenfalls machte keiner Anstalten, auf ihre Frage eine Antwort zu geben. Isabeau räusperte sich.
    »Nun, ähem, schon mal was vom Ozonloch gehört?«
    Entnervtes Stöhnen.
    »Erderwärmung? Treibhauseffekt?« Das Stöhnen wurde noch lauter und einige drehten sich demonstrativ von ihr weg.
    Ich hatte den starken Verdacht, dass dieser Tag wenig Amüsantes bringen würde, sollte der weitere Verlauf unbeeinflusst bleiben.
    Die Sonne schien und drang mit ihren Strahlen durch das dichte Blätterdach, zeichnete abstrakte Muster auf die Schwämme, die die Baumrinde überwucherten. In der Luft fand sich kein süßer Duft, wie ihn der Frühling zerstäubte, sondern das feuchte, erdige Aroma nach verwesendem Laub, nach Pilzen und würzigen Nadeln. Fichtenzapfen lagen verstreut da, von Eichhörnchen ihrer Samen beraubt und verworfen wie ein ausgeweidetes Tier.
    Isabeau kämpfte weiter mit ihren Erklärungen. Irgendetwas von Stickoxiden, Schwefel und ausgewaschenen Magnesium- und Aluminiumionen. Selbst mir jagte es einen Schauer über den Rücken.
    Für mich war der Wald ganz Sinnlichkeit, ein pures Erleben der Gegensätze: Die Dunkelheit unter einem Wurzelteller im Kontrast zu den Farbenspielen auf einer Lichtung. Die Höhe der Baumkronen, deren Stämme mit metertiefen Wurzelverästelungen in der Erde verankert waren, gegen flach kriechende Ranken. Große Jäger wie der Luchs beanspruchten mehrere Hektar Wald, wohingegen sich in einer Handvoll Erde Abermillionen Kleinstlebewesen tummelten. Diese ganzen Gegensätze vernetzten sich, kämpften gegeneinander und harmonierten doch - wie eine Komposition des sinnlichsten, ältesten Lebens.
    Der Wald bedeutete Freiheit und doch starre Naturgesetze: Wie ein Präludium und eine Fuge von Bach, dachte ich seufzend.
    Vielleicht sollte ich Isabeau helfen, den Wald mit anderen Augen zu sehen. Ich setzte mich auf einen Baumstumpf, streifte mir Schuhe und Strümpfe von den Füßen und erfühlte mit meinen Zehen den Untergrund. So würde es für niemanden ein angenehmer Nachmittag werden, und das wäre doch sehr betrüblich. Lächelnd trat ich durch die Bäume auf die Gruppe zu.
    »Schon mal über glühende Kohlen gelaufen?«, fragte ich laut.

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