Rabenblut drängt (German Edition)
gesunden Bäume überspringen.«
»Richtig. Doch der Borkenkäfer ist nicht die eigentliche Ursache für das Waldsterben. Gesunde Bäume wissen sich gegen den Käfer zu wehren.«
»Ach, das war die Nummer mit dem Harz?«
Ich war beeindruckt. Der Junge hatte tatsächlich zugehört.
»Sie verschließen die Bohrlöcher mit ihrem Harz und -«
»Aber wenn man die toten Bäume liegen lässt, dauert es doch ewig, bis sie vermodert sind«, warf er ein.
»Wir dürfen nur nicht so kurzfristig denken. Wenn man dem Wald Zeit lässt, sich zu erneuern, dann pflanzen sich die richtigen Bäume selbst an den für sie optimalen Standort. In den Wirtschaftswäldern stehen größtenteils Fichten und Tannen, die ein schnelles Wachstum und damit einen schnellen Ertrag bringen, aber das ist unnatürlich. Ein Mischwald ist das Ziel. In zehn Jahren wird es hier schon ganz anders aussehen«, sagte Isabeau. »Und du darfst nicht vergessen: Den Wald gibt es schon seit Jahrtausenden, und die Forstwirtschaft gerade mal seit zweihundert Jahren. Bisher kam er ganz gut ohne uns Menschen aus.«
Der Junge nickte. Ich hatte Isabeau fasziniert gelauscht. Ihre Augen glänzten. Es war unverkennbar, dass sie den Wald liebte.
Ein paar Mädchen stießen spitze Schreie des Entzückens aus, sie hatten einen Igel unter einem Reisighaufen entdeckt. Isabeau entspannte sich sichtlich. Sie sammelte ein paar Bucheckern, brach die Schale mit ihren Fingernägeln auf und knabberte daran. Anscheinend hatte sie beschlossen, den Dingen ihren Lauf zu lassen, und nicht weiter einen oberlehrerhaften Vortrag zu halten.
Ich wurde mir erst bewusst, dass ich sie immer noch anstarrte, als sie meinen Blick mit einem fragenden Ausdruck erwiderte. Also gesellte ich mich zu ein paar Jungs, die eine wuselnde Schar Asseln unter einem Rindenstück gefunden hatten. Sie stupsen die Tiere an, die sich sofort zusammenkugelten. Völlig in Gedanken versunken, sammelte ich ein paar davon auf und steckte sie mir in den Mund.
Irgendwie hatte ich den Geschmack besser in Erinnerung. Ich hörte, wie Isabeau erschrocken die Luft einsog, und schaute hoch - auch die Jungs verzogen angeekelt das Gesicht.
Was hatte ich getan? Ich war mir keiner Schuld bewusst. Ich kaute und schluckte mühsam. Dann schoss es mir durch den Kopf: Ich war ein Mensch! Ich hatte völlig vergessen, in welcher Gestalt ich mich befand.
Innerlich fluchend stand ich auf. Ich musste diese Situation irgendwie überspielen. Sie dazu bringen, dass sie ihren eigenen Augen nicht trauten. Aber mein Geist war wie leergefegt.
»Sie hatten wohl noch kein Frühstück?«, fragte einer der Jungs.
Aus kurzer Entfernung ertönte plötzlich ein krächzender Schrei. Ein Rabenschrei – ausgerechnet.
Jemand rief nach mir.
Ich lauschte.
Als sich der Schrei wiederholte, war ich mir sicher, dass es Milo sein musste. Ich verharrte auf der Stelle, wie ein Raubtier auf der Lauer - bereit zum Sprung. Meine Lider begannen zu flattern. Oh Gott - bitte nicht jetzt! Ein Zittern durchlief meinen Körper.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ist Ihnen jetzt schlecht?«
Ich musste mich zusammenreißen, mein Rabenblut zurückdrängen.
»Also mir wäre auch kotzschlecht, wenn ich eine Handvoll von diesen Ekelviechern gegessen hätte.«
Hör nicht hin! Denk nicht einmal daran! Warum hielt Milo nicht den Schnabel? Er krächzte immer noch. Was war so wichtig, dass er mich jetzt rufen musste?
Wellenartig schwappte mein Rabenblut über, quoll übervoll aus meinem Herzen. Und egal, wie sehr ich es auch zurückdrängte, es bahnte sich doch unaufhaltsam seinen Weg. Es verdrängte mein Menschenblut, bis es nur noch eine Spur war, ein Faden, ein Haarriss gar. Ich konnte es nicht mehr verhindern, also sprang ich, schaute weder links noch rechts und rannte los.
Ich berührte den Boden kaum, zumindest spürte ich ihn nicht. Als ich das Haus erreichte, hatte ich jegliche Kontrolle über meinen Körper verloren. Wie ein Blinder stolperte ich durch die Tür. Ich zitterte und bebte, jede Zelle meines Körpers vibrierte unter dem Drang, sich zu verwandeln, schmolz unter der Hitze dieses Blutes, dieses rabenschwarzen Blutes.
Unmöglich auch nur einen Finger zu rühren, geschweige denn die Tür abzuschließen. Der Schmerz traf mich heftig, weil ich mich ihm nicht hingeben konnte. Atmen war unmöglich. Ich fiel auf die Knie, bevor sich mein Körper vollends ergab, sich zu einem schwarzen Ballen bündelte und mit einem prasselnden Geräusch meinen
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