Rabenblut drängt (German Edition)
wieder spielen. Noch in dieser Nacht würde ich zu meinem Schwarm zurückkehren und die Musik in den hintersten Winkel meiner Erinnerung sperren. Auch Isabeau würde ich verdrängen, würde ihr Gesicht verblassen lassen wie eine alte Fotografie, bis ich mich nicht einmal mehr an die Farbe ihrer Augen würde erinnern können. Und auch ihr Name würde dann endlich aus meinem Kopf verschwinden.
Ich nahm meine Finger von den Tasten und klappte den Klavierdeckel herunter. Erst dann hörte ich die Schritte auf dem Flur.
Es klopfte, und Lara streckte ihren Lockenkopf durch die Tür. »Entschuldige, wenn ich dich störe«, sagte sie.
»Das ist völlig unnötig. Ich habe mich verspätet - verzeih!« Ich rappelte mich kraftlos auf, zu erschöpft, um mit einem fröhlichen Geplauder zu beginnen.
»Du hast Besuch. Ich habe ihn gleich mitgebracht.« Die Neugierde in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Ich hatte keine Zeit, den Schreck zu verdauen, denn sie ließ den Besucher sofort eintreten.
»Wurde auch mal wieder Zeit nach mehr als acht Jahren!« In Nikolaus’ gebräuntem Gesicht zeigten sich feine Lachfalten. Mit wenigen Schritten war ich bei ihm, umarmte ihn und hielt ihn einen Moment fest. Es war mir gleichgültig, dass Lara mich bei dieser Geste der Zuneigung sah. Nach so vielen Jahren spielten falsche Peinlichkeiten keine Rolle mehr. Ich musterte ihn. Seine dunkelblonden Haare trug er zusammengebunden, und er kleidete sich noch genauso rebellisch wie früher - mit Lederjacke und derben Stiefeln.
»Tut das gut dich zu sehen!«, entfuhr es mir. Auch Nikolaus’ Augen glänzten verräterisch.
»Ich lass euch dann mal allein, sicher habt ihr euch viel zu erzählen«, sagte Lara.
Sie huschte durch die Tür und ich konnte meine wesentlichste Frage loswerden:
»Warum hast du nicht gewartet? Ich hätte nie damit gerechnet, dass du einfach hier hereinmarschieren würdest. Mir ist fast das Herz stehen geblieben!«
Nikolaus unkte. »Welches von beiden denn?«
»Wirklich sehr komisch! Jetzt mal im Ernst, ich dachte, das Ganze würde eine Nacht-und-Nebel-Aktion? Jedenfalls hat Milo mir das gesagt.«
»Ich hab’s mir anders überlegt. Wollte mal sehen, wie du hier so haust. Scheint ja ziemlich spartanisch zu sein.«
»Hat dich Lara nicht gefragt, woher du wusstest, dass ich hier bin?«
»War das die Kleine, die mich hierher geführt hat?«
»Ja, aber vergiss es, sie ist verheiratet.«
Er lachte. »Schon klar. Ich übrigens auch.«
»Du bist verheiratet?«
»Seit sechs Jahren. Hat Milo dir das nicht verraten?«
»Ich hatte keine Ahnung. Aber ... das ist ja ... großartig. Ich gratuliere!« Für mehr fehlten mir die Worte.
»Das Leben ist weitergegangen seit damals, weißt du?«
Einen Moment starrten wir uns wortlos an.
»Ich habe nicht erwartet, dass es für mich stehen bliebe«, erwiderte ich leise.
Nikolaus nickte. »Komm, ich zeige dir Fotos von meinen Mädchen!« Er kramte in seinem Portemonnaie. »Das ist Katharina, meine Frau. Und auf ihrem Arm, das ist Karola. Sie ist jetzt zwei. Das Bild ist schon etwas älter, damals war sie erst ein paar Wochen alt. Und daneben steht Marina: Fast fünf und ein echter Quälgeist.«
»Du musst sehr glücklich sein«, sagte ich.
»Klar. Aber was ist mit dir. Ich meine, abgesehen davon, dass du hier bist. Wie lebst du?«
» Wie ist eine gute Frage. Seit damals, als wir uns das letzte Mal gesehen haben, lebe ich ununterbrochen im Schwarm. Ich habe mich nicht wieder ... verwandelt.«
»Und jetzt nur wegen dieses Angriffs?«
»Es war unkontrolliert.«
»Wen vermutest du dahinter? Oder glaubst du, dass es ein Unfall war?«
»Ausgeschlossen. Weißt du Bescheid über die Blutuntersuchung der Kampfhunde?«
»Ja - Milo.« Er nickte. »Spricht nicht gerade für einen Zufall.«
»Nicht wirklich, nein.« Ich hielt einen Moment inne. »Ich habe gehofft, es wäre vorbei, dass es nach all den Jahren irgendwann einmal ein Ende hätte.«
»Also ich habe das nicht erwartet.«
»Was willst du damit sagen?«
Nikolaus rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Dachtest du, dass sie vergessen würden, dass ihr mit diesen Flugblättern auf die Menschenrechtsverletzungen aufmerksam gemacht habt? Ihr habt mit politischen Aktionen den Staat untergraben!«
»Das waren nicht wir, das waren unsere Väter! Niki, ich war erst sechs!«
»Das spielt doch keine Rolle. Solche Männer lassen sich niemals etwas wegnehmen, erst recht keine politische Macht.«
»Das sind politische
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