Rabenbrüder
gut, ich nehme an, daß es sich um eine persönliche Abrechnung handelt, und dann haben wir im Grunde nichts zu befürchten, auch wenn der Mörder noch frei herumläuft. Bleib sitzen, An-nettchen, ich räume nur unsere Tassen weg. Mit einer Hand kannst du sowieso nicht viel helfen.«
Nach einer Weile kam Pauls Mutter mit einem Kästchen wieder. »Jean Paul und Achim haben bereits ein kleines Andenken an ihren Vater erhalten. Ich könnte mir denken, daß du vielleicht ein Schmuckstück aus dem väterlichen Erbe tragen möchtest. Such dir etwas aus!«
Gespannt lüftete Annette den Deckel und betrachtete ein buntes Kettengewirr aus Glas oder Halbedelsteinen.
»Danke, Helen«, sagte sie wohlerzogen, »ich hätte gern das kleine Korallenkettchen.« Wahrscheinlich sah man Annette die Enttäuschung an, denn sie hatte auf die Kron-juwelen spekuliert.
Die Mutter seufzte. »Hat es Jean Paul dir nie erzählt? Vor zehn Jahren wurde bei uns eingebrochen, alles Wertvolle ist futsch. - Du siehst heute so blaß aus, was macht eigentlich dein Blutdruck?«
Annette sagte, daß er zu niedrig sei. Im Ausland spotte man allerdings über the German Disease, denn Hypotonie sei im Grunde keine Krankheit.
Das Stichwort Blutdruck war für ihre Schwiegermutter ein willkommener Anlaß, um Tai Chi aufs wärmste zu empfehlen. »Leider sind meine Söhne ja so faul, beide treiben praktisch gar keinen Sport. Ich habe Jean Paul zugeredet wie einem lahmen Gaul, aber ohne Erfolg. Achim ist auch nicht viel besser, immerhin hat er zum Glück meine leptosome Konstitution. Jean Paul ist ein pykni-scher Typ wie sein Vater. Er müßte dringend etwas tun, man sieht in letzter Zeit sein Bäuchlein förmlich wachsen. Wenn ihr schon von Tai Chi nichts wissen wollt, könntet ihr doch zusammen in den Tennisclub gehen oder Golf spielen! Auch für deinen Kreislauf gilt das Motto: Bewegen bringt Segen!«
Als die übernächtigten Söhne endlich zum Frühstück erschienen, war Annette zwar erleichtert, aber auch befangen. Sie versuchte erneut, mit dem Mord in Bretzenheim ein interessantes Thema anzusprechen, und merkte zum zweiten Mal, daß sie sich wie ein Elefant benahm. Unmißverständlich wurde sie von Achim gebremst.
Paul fragte seine Mutter, was er am Freitag anziehen solle.
Sie überlegte: »Besitzt du denn keinen dunklen Anzug?«
Paul verneinte.
»Dann leih dir Achims nachtblauen Blazer«, empfahl sie.
Annette mußte laut loslachen, weil sie sich ihren Mann in zu enger Jacke und mit langen, wedelnden Ärmeln als Friedhofs-Vogelscheuche vorstellte. Wie zu erwarten war, stand Paul auf und verließ gekränkt den Raum.
»Ich geh’ mal ein bißchen spazieren«, sagte Achim.
»Kommst du mit, Kleines?«
Bewegen bringt Segen, dachte Annette und wollte den Rat der Schwiegermutter ausnahmsweise beherzigen, gab aber zu bedenken, daß sie für längere Wege noch zu wak-kelig auf den Beinen sei.
Nach kurzer Autofahrt erreichten sie Mainz-Gonsenheim, wo es einige prächtige Jugendstilvillen gab. »Wir laufen höchstens zehn Minuten, das wird dich nicht überan-strengen«, sagte Achim. »Häuser angaffen ist meine Leidenschaft, denn dabei denke ich mir aus, welches ich von einem Lottogewinn kaufen würde.«
Annette kannte dieses Spiel und mochte es. »Sollen wir das gelbe nehmen?« fragte sie und wies auf ein idyllisches Haus mit einer großen Trauerweide im Vorgarten.
Es kämen noch bessere, meinte Achim.
An einem Gartentörchen kläffte ein reizbarer Rauhhaardackel und lief hinter dem schmiedeeisernen Gitter bis ans Ende des Grundstücks neben ihnen her. »So einen hatten wir auch mal«, sagte Achim, »eigentlich gehörte er sogar mir.«
»Eigentlich?« fragte Annette.
»Na ja«, sagte er, »ein Hund hält sich im allgemeinen an den Chef der Familie und im besonderen an die Futterquelle. Mit anderen Worten: Mein Dackel glaubte, er sei Mutters Hund.«
»Wie alt warst du damals?«
»Als ich ihn zum Geburtstag bekam, war ich neun, und als er starb, zehn.«
Achim blieb plötzlich stehen und nahm Annette an die Hand. Sie sah, daß er sich aufregte. »Mit Sicherheit liebte unsere Mutter diesen Köter mehr als mich. Sie hat ihm frische Leber und Karotten geschabt und ist dauernd mit ihm spazierengegangen; wenn sie las, lag er ihr zu Füßen. Gelegentlich, wenn sie keine Lust hatte, mußte ich ihn ausführen, dann war es auf einmal mein Hund. Um die Sache abzukürzen: Ich nahm ihn eines Tages nicht an die Leine, obwohl sie es mir eingeschärft hatte. Als er
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