Rabenbrüder
plötzlich eine Katze sah, lief er mit einem Affenzahn quer über die Straße und wurde vor meinen Augen überfahren.«
»Wie schrecklich für dich!« rief Annette bestürzt.
»Ja«, sagte Achim, »das war heftig! Aber noch schlimmer war es, daß man mich für seinen Tod verantwortlich machte. Mutter war sicher selbst sehr traurig, aber ich war schließlich noch ein Kind! Anstatt mich zu trösten, hat sie mir eine Ohrfeige verpaßt und mich wie einen
Verbrecher behandelt. Später hieß es auch von unserem Vater: Nie wieder kommt ein Tier ins Haus, weil unser Sohn nicht weiß, was Pflichtbewußtsein bedeutet. Aber niemand sagte etwas dagegen, als sich Paul eine stinkende alte Ratte zulegte.«
Annette küßte Achim auf die Wange. »Armer Junge«, sagte sie mitleidig, »komm, laß uns weitergehen.«
Vor einer Villa mit wunderschönen Bleiglasfenstern stiegen gerade zwei Polizeibeamte in ihren grünen Wagen. Als sie außer Sichtweite waren, las Annette verblüfft auf dem Namensschild: Heiko Sommer.
»Man ermittelt also immer noch«, sagte Achim. »Übrigens hatte er keine Familie, das Haus kommt jetzt sicher unter den Hammer.«
Annette hätte für ihr Leben gern einen Blick ins Innere geworfen; ob man vielleicht von der Rückseite aus ...?
Achim grinste. »Du bist ja neugieriger, als die Polizei erlaubt«, meinte er. »Komm, wir probieren es mal an der Gartentür.«
Ohne Probleme gelangten sie über einen seitlichen Plattenweg auf die rückwärtige Veranda und konnten von da aus in einen Wintergarten sehen. Eingelegte weiße Fliesen mit türkisfarbenen Ornamenten bildeten die Oberfläche eines großen Holztisches, mit dem ein weißer Bücherschrank harmonierte, zwei Korbsessel luden zum Verweilen ein. Wie an der Vorderseite des Hauses gab es Fenster aus blau-grün-gelb-gemustertem Glas, durch das sma-ragdfarbenes Licht flutete.
Tief beeindruckt sagte Annette: »Ist ja traumhaft! Für diese Villa würde ich sogar Mannheim verlassen. Hatte er das Haus geerbt?«
»Nein«, sagte Achim, »er hat’s inklusive Inventar gekauft, es steht unter Denkmalschutz. Angeblich hat er sich übernommen, denn er glaubte wahrscheinlich, sein Restaurant würde zur Goldgrube. >Die Wildgans< war zwar beliebt und meistens voll, aber nicht jeder Gastwirt kann kalkulieren.«
»Woher weißt du so gut Bescheid?« fragte Annette verwundert.
Achim meinte, er habe sich umgehört, und im Augenblick rede alle Welt über den Mordfall.
»Du meinst, ganz Bretzenheim«, verbesserte sie lächelnd.
Immer noch standen sie im fremden Garten. »Hat dir Paul denn gar nichts von Heiko Sommer erzählt?« fragte Achim; sie schüttelte den Kopf. »Dieser Typ war der Geliebte unserer Mutter«, sagte er kaum hörbar.
»Nein«, schrie Annette, »das kann ich nicht glauben!«
Doch im gleichen Moment empfand sie leichte Schadenfreude, weil Pauls gepriesene und verehrte Mama nun einen gehörigen Kratzer im Lack hatte.
»Leider ist es wahr«, sagte Achim, »Paul und ich haben sie sozusagen in flagranti ertappt.«
Langsam verließen sie das große Grundstück mit den vielen alten Kiefern, das zum Glück von den angrenzenden Gärten aus nicht einsehbar war.
Nun, da die erste Welle der Gehässigkeit verebbte, empfand Annette nichts als Traurigkeit. Wieso hatte Paul ihr kein Wort davon mitgeteilt? Mußte sie erst durch seinen Bruder die Wahrheit erfahren? Warum benahm sich ihr eigener Mann so, als würde sie nicht zur Familie gehören und könnte kein Geheimnis für sich behalten? Unversehens wurde ihr wieder schwindelig, und sie sank auf ein Mäuerchen.
Etwas ratlos befahl Achim: »Bleib bitte hier sitzen und rühr dich nicht von der Stelle, ich hole das Auto. Du hast dich sicher übernommen!«
Sie nickte.
Im Wagen lehnte sich Annette zurück und schloß die Augen. »Geht’s besser, Kleines?« fragte Achim besorgt.
»Bin wieder okay«, log sie und zwang sich zu mehr Haltung.
Bereits nach einer Minute hielt Achim wieder an. »Hier wohne ich«, sagte er, »magst du als Kontrastprogramm noch rasch meine bescheidene Hütte besichtigen?«
Heute nicht, wollte sie sagen, aber die Wißbegierde siegte. Das dreistöckige Mietshaus war natürlich keine Jugendstilvilla, sondern ein Kasten aus den siebziger Jahren. Vielleicht sollte sie doch mit Tai Chi beginnen, überlegte Annette, weil ihr schon zwei Treppen schwerfielen. Ihre nächsten Gedanken waren jedoch ziemlich verworren: Auf was hatte sie sich da eingelassen? Wie würde Achim ihre Bereitwilligkeit
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