Rabenflüstern (German Edition)
er die Decke über den nackten Körper der neben ihm liegenden Lou und nahm einen Wurfdolch in die Hand. Dann gähnte er ein »Herein«. Es war Heilwig, der Berater des Königs.
Nachdem sein Blick über die Wölbung der Decke geglitten war, sagte er mit einem Lächeln auf den Lippen, Siebenstreich wolle ihn sprechen. Er würde warten, fügte er hinzu, indem er die Türe hinter sich schloss. Der Krieger küsste die Stirn der Drude, die sich daraufhin rekelte und auf die Seite drehte. Er zog sich an und warf den Waffengurt, an dem Leid und Schmerz hingen, über die Schulter.
Ohne ein weiteres Wort schritt der Kobold voran und Kraeh folgte ihm. Sie durchquerten die bunte Halle, wo einige auf den Bänken laut schnarchend schliefen. Hinter dem Thron befand sich eine Tür, die ihm zuvor nie aufgefallen war. Heilwig schloss sie auf. Dahinter lag eine lange Wendeltreppe. Oben angekommen atmete Kraeh schwer wegen der Anstrengung direkt nach dem Aufstehen. Der Raum, den sie betraten, war mit erdfarbenen Wandteppichen geschmückt, die in derbem Kontrast zu dem unbearbeiteten Steinboden standen. Sechs Ständer hielten Rüstteile aufrecht, die den Eindruck vermittelten, dass man beobachtet wurde. Unter den zugezogenen Visieren gähnte eine unheimliche Leere. Auf die Anweisung des alten Kobolds hin legte der Krieger seine Waffen ab.
»Um ehrlich zu sein«, hob Heilwig an, »habe ich davon abgeraten, dir das Geheimnis Skaarbroks zu offenbaren. Was du jetzt sehen wirst«, er drückte mit der flachen Hand auf eine Stelle an einem der Schmuckteppiche, woraufhin ein Mechanismus einen Teil der Wand in Bewegung setzte, »ist das Herz des Landes. Was sage ich, es ist die Seele der ganzen zivilisierten Welt.«
Der Spalt in der Wand teilte einen Teppich. Ein gelbes Dreieck, in dessen Mitte ein Auge aufgestickt war, schwang nach innen auf.
»Bitte«, forderte der Kobold ihn auf und wies auf den Durchgang.
Der sich vor ihm auftuende Saal war mindestens so groß wie die bunte Halle. Er lag auf der höchsten Ebene der Feste, einzig von den Türmen überragt. Die Front zur Seeseite hin bestand aus den mächtigsten Fenstern, die Kraeh je gesehen hatte. Sie waren nicht von dem milchigen, schlecht geblasenen Glas, auf das Bran in Brisak so stolz war, vielmehr war die Trennung zur Außenwelt nur durch wenige Verunreinigungen und dezent aufgemalte Vogelkörper wahrzunehmen. Die Morgensonne blendete ihn und ihr Schein reflektierte auf den schwarz-weißen Marmorfliesen. Das Inventar bestand aus hohen Regalen, die über und über mit Schriftrollen und Büchern angefüllt waren, sowie etlichen Schreibtischen, an denen wenige greise Männer und viele fleißige Knaben saßen, wo sie Abschriften anfertigten oder einfach nur vor sich hin lasen, ihre Lippen tonlos Worte formend. An der vom Meer abgekehrten Wand waren Fresken und Bilder angebracht von solcher Erhabenheit, dass es dem Krieger, trotz seiner Unbewandertheit in Kunstdingen, die Sprache verschlug. Hinter ihm schob sich der Eingang zu und Heilwig trat neben ihn. Erst jetzt, da er sich zu ihm umwandte, erkannte Kraeh den König, der, in eine weiße Toga gehüllt und einen Federkiel in der Hand, von seinem Buch aufsah. Beinahe hätte Kraeh laut aufgelacht. Auf dem einen Auge trug der Troll ein Monokel, seine Hände waren schwarz von Tintenklecksen. Für einen kurzen Moment fragte er sich, ob er träumte.
Der König, an dessen Gestalt nun nichts mehr an die gewohnte Strenge und Ungehobeltheit erinnerte – selbst seine sonst wüsten Seetanghaare waren wohlgestriegelt –, winkte sie herbei, ließ sie dann aber warten, bis er einen Absatz zu Ende geschrieben hatte. Während sie dastanden, betrachtete Kraeh eine Tonbüste, die neben dem Tisch auf einem Podest ruhte. Sie stellte einen alten, bärtigen Mann mit leblosen Augen dar. Sein Blick wanderte weiter. Der Stein, den der König normalerweise an einer Kette um den Hals trug, lag zum Greifen nahe auf der eichenhölzernen Tischplatte neben dem Tintenfass.
Siebenstreich legte den Federkiel beiseite. Eine junge Frau, ebenfalls in helles Tuch gekleidet, brachte dem Krieger einen Stuhl. Heilwig nuschelte, er würde sie dann mal alleine lassen.
Nebeneinandersitzend blickten sie hinaus auf die See. Die hohen Wogen der Brandung rollten gleichmäßig auf die Felsen zu, wo sie in weißer Gischt zerbarsten. Möwen flatterten spielend vor den Fenstern hin und her. Kraeh hätte lediglich den Arm ausstrecken müssen, um sie berühren zu
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