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Rabenflüstern (German Edition)

Rabenflüstern (German Edition)

Titel: Rabenflüstern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Schmidt
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bewegungslos. Von der Frau ging ein weinerliches Geräusch aus. Die beiden schienen ihn in keiner Weise zu bemerken. Immer näher schwebten sie ihm entgegen. Als er die peinvollen, milchblassen Gesichter des Paares erkannte, senkte er die Klingen. Anstatt unmittelbar vor ihm Halt zu machen, liefen oder schwebten sie einfach durch ihn hindurch. Ein fröstelnder Schauer durchfuhr ihn. In einem Anflug von Mitgefühl schaute er ihnen nach, wie sie sich fortwährend begleitet von dem Weinen der Frau wieder entfernten. 
    »Pst!«, machte es von der Seite. Miersnick lugte hinter einem Baum hervor, sodass nur eines seiner unheimlichen Augen ihn anstarrte. 
    »Du …«, sagte Kraeh unheilvoll. »Was suchst du hier? Solltest du nicht auf den nächsten warten, den du vergiften kannst?« 
    »Pst«, wiederholte er, »nicht so laut. Man darf mich hier nicht sehen.« 
    Kraeh hätte ihm am liebsten den Kopf abgeschlagen, er hasste Überraschungen dieser Art, senkte aber dennoch seine Stimme, als er ihn fragte, weshalb ihn das kümmern sollte. 
    »Ich kann nichts dafür«, entschuldigte er sich beinahe winselnd. »Seit Jahrhunderten versorge ich Neuankömmlinge. Dafür erlauben sie mir, meinen Garten zu pflegen.« Sein zweites Glubschauge kam zum Vorschein. »Viele, Abenteurer wie du«, sagte er und es klang wie ein Vorwurf, »haben mich getötet. Aber ich muss immer wiederkommen, bis jemand birgt, was auf der anderen Seite ist.« 
    Der Krieger schob die Waffen zurück in die Scheiden. »Ich habe dir kein Leid zugefügt. Stimmt’s?«, fragte er, geflissentlich seine vorangegangenen Gedanken verbergend. 
    »Stimmt. Deshalb bin ich gekommen, dich zu warnen. Deshalb und weil du der Erste seit langer, langer Zeit bist …« 
    »Vor was warnen, Miersnick?« 
    Das Wesen tat geheimnisvoll und versteckte sich dabei wieder vollends hinter dem breiten Stamm. Einem Windhauch gleich, flüsterte es: »Vor dem Wasser. Trink nicht davon. Es bringt Vergessen.« 
    Dies waren seine letzten Worte, denn als Kraeh an den Baum herantrat und dahinter nachsah, war der Wicht verschwunden. Er überlegte, ein »Danke« in den Wald zu rufen, doch er wollte den Kleinen nicht verraten. Kopfschüttelnd machte er sich wieder auf den Weg. Am Ende, musste er feststellen, war er doch einer im Grunde guten Seele begegnet, und das an einem Ort, der sich immer mehr als schrecklich erwies. Kraehs Schätzung nach musste schon gut die Hälfte der Nacht vergangen sein und er zweifelte daran, dass die Sonne am nächsten Tag aufgehen würde. Er hatte noch mehr Geistgestalten angetroffen. Wie die ersten waren auch sie, in ihre Welt versunken und ihn völlig ignorierend, an ihm vorbeigestreift. Um das unangenehme Durch-ihn-hindurch-Fahren zu vermeiden, war er ihnen stets rechtzeitig ausgewichen. 
    Kein Mond stand am grauschwarzen Himmel, als er endlich die Barke erblickte. Wie sie da im blutroten Fluss dümpelte, erweckte sie den Anschein, ihn erwartet zu haben. 
     
    *** 
     
    Das Boot war aus einem einzigen Stück tintenschwarzen Holzes gefertigt. Kraeh bekam eine Gänsehaut, als ein Luftzug die Dunstschwaden fortblies und den Blick auf eine überdimensionierte, schlaksige Figur in dunklem Gewand freigab. Sie stand am Heck, eine lange Stange in einer unter weiten Ärmeln verhüllten Hand. Eine Laterne, in der eine einzige Kerze gegen die Finsternis anglomm, war ausladend am Bug befestigt. »Der Fährmann«, raunte Kraeh an sich selbst gewandt. 
    Einer einladenden Geste folgend, stieg er ohne Zögern in die schmale Barke. Als er es sich, so gut es ging, auf einem Balken bequem gemacht hatte, streckte die ihn bei Weitem überragende Gestalt ihre Hand aus. Dem Krieger wäre es lieber gewesen, sie wäre unter dem schweren Stoff verborgen geblieben; sie war groß, fahl und an mehreren Stellen verwest, sodass man die Knochen durch die verfaulte Haut blank liegen sah. Tunlichst vermied er es, dem Fährmann ein zweites Mal ins Gesicht zu schauen, das gnädigerweise unter einer Kapuze steckte. Nur der Platz, wo seine Augen hätten sein müssen – Kraeh bemühte sich nicht daran zu denken –, war eindeutig leer gewesen. 
    »Erst fahre mich hinüber«, sagte er trotzig der halb verfaulten Hand entgegen. Erst nach einer Weile, da Kraeh keine Anstalten machte, sich zu rühren, wurde sie zurückgezogen und der Fährmann begann, das Boot auf den Fluss hinauszustaken. Unmöglich konnte die Stange sie so schnell in Fahrt bringen, wie es geschah. Auch hörte der Krieger sie

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