Rabenherz & Elsternseele
Denken wird schwieriger, je länger die Verwandlung andauert. Und du bist es nicht gewöhnt, damit umzugehen.«
»Hast du beobachtet, wie von Meutinger Jori entführt hat? Woher wusste er, dass sie hier ist? Und glaubst du, dass du hier sicher bist? Was, wenn er noch einmal wiederkommt und dich auch noch erwischt? Und meinst du wirklich, dass ich etwas erreichen kann, wenn ich in diesen Turm fliege?«
Oma schob den letzten Bissen Brötchen in den Mund, kaute eine Weile schweigend und sah dabei aus dem Fenster. Dann klopfte sie sich entschlossen die Krümel ab und stand auf. »Wie der Mann deine Freundin hier gefunden hat, weiß ich nicht. Vielleicht hatte von Meutinger mich ebenso in Verdacht wie ich ihn. Die Tür hat sie ihm jedenfalls geöffnet, weil er so getan hat, als wäre er ein Paketbote. Mich wird er nicht so leicht überrumpeln. Was du erreichst, wenn du in den Turm fliegst, kann ich dir zwar nicht sagen, aber ich kann dich ein bisschen auf das vorbereiten, was du vielleicht vorfindest. Komm!«
Sie streckte den Arm nach mir aus, und ich ging an ihrer Seite und stützte sie. Den ganzen Weg nach oben in ihr Schlafzimmer stöhnte und schimpfte sie so gereizt vor sich hin, wie ich es bei ihr noch nie erlebt hatte. Ihr Fuß zeigte noch nicht die geringste Besserung. »Muss das immer so wehtun?«, fragte ich, als ich ihr bis zu ihrem Bett geholfen hatte.
»Nein. Das hat etwas damit zu tun, welche Einstellung du zu der Verwandlung hast. Je leichter du sie nimmst, desto weniger Schwierigkeiten wirst du damit haben. Ich bin nur eingerostet. Habe mich so lange dagegen gesträubt, dass … Mach dir keine Sorgen. Leander ist durch die Verwandlungen gegangen, als würde er bloß das Hemd wechseln. So, und nun erkläre ich dir, was die Nachfahren Kotanwis seit Jahrhunderten benutzen, um uns zu fangen.«
Sie zeigte zur Wand, wo die Falknerausrüstung als Schmuck hing.
Eine halbe Stunde später radelte ich zur Burg Falkenstein hinauf. Ich war mit Oma zu dem Schluss gekommen, dass es ein günstiger Moment für meinen Ausflug in den Turm wäre, wenn von Meutinger im Hof mit der zweiten täglichen Flugshow beschäftigt war, deshalb beeilte ich mich. Aber je weiter ich mich von Oma entfernte, desto weniger glaubte ich daran, dass ich mich wirklich verwandeln würde, wenn ich meine Armbänder abnahm. Oma hatte mir nicht erklärt, warum sie so überzeugt davon war, dass es geschehen würde. Schließlich erbte nicht jeder »die Gabe und den Fluch«, wie sie es nannte. Sie wüsste es einfach, hatte sie gesagt. Nun, ich dagegen wusste es nicht. Und Angst hatte ich immer noch. Was, wenn ich tatsächlich zum Vogel wurde und etwas schiefging? Vielleicht verwandelte ich mich nur halb oder war zu blöd zum Fliegen und stürzte ab.
Es gar nicht zu versuchen kam allerdings auch nicht infrage. Ich suchte ein gutes Versteck für mein geliebtes Fahrrad und schloss es an einem Baum an, für den Fall, dass ich länger fort sein würde. Oma hatte versprochen, sich bei Mama zu melden und ihr so viel wie nötig schonend beizubringen, damit sie sich weniger Sorgen um mich machte.
Eine Viertelstunde blieb mir noch, bevor die Show anfing. Ich machte mich zu Fuß auf den Weg zu der Stelle, an der ich mich das letzte Mal gemeinsam mit Jori versteckt hatte. Dort setzte ich mich auf den Boden, musterte den umliegenden Wald und die Baumwipfel und versuchte, mich an die Ratschläge zu erinnern, die Oma mir gegeben hatte. Ich sollte mich vergewissern, dass keine Raubtiere in der Nähe sind, wenn ich mich verwandle, besonders keine Katzen und Hunde. Soweit ich sehen konnte, war das nicht der Fall. Bäume und Felsen, auf die ich fliegen konnte, gab es auch, und Menschen waren nicht in Sichtweite. Außerdem war diese Stelle geeignet, um meine Kleidung zurückzulassen, bis ich wiederkommen konnte. An dieses Problem hatte ich zuerst nicht gedacht, aber das hatte Oma vorausgeahnt. Sie hatte mir empfohlen, alte Sachen anzuziehen, um die es nicht schade war, wenn sie verloren gingen. Sie hatte mir auch geraten, mich ganz auszuziehen, bevor ich die Armbänder abmachte, aber das ging mir dann doch zu weit. Ich würde vor Scham sterben, wenn ich nackt an der Burgmauer hockte und auf eine magische Verwandlung wartete, bis mich vielleicht irgendwelche Touristenkinder entdeckten und sich totlachten.
Entschlossen löste ich die Knoten meiner Armbänder. Eines nach dem anderen nahm ich sie ab und stopfte sie in die Hosentasche der alten Jeans, die mir längst zu
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