Rabenmond - Der magische Bund
konnte sie nicht aussprechen.
»Sie ist... Tibb, sie ist anders als jeder Mensch, den ich je getroffen habe. Von ihr lerne ich viel mehr über die Menschen als aus den Büchern und Berichten. Bei niemand anderem geht es mir so wie bei ihr.«
Baltibb sah ihn noch immer wortlos an. Dann machte sie einen Schritt auf ihn zu, nur um zwei zurückzutreten, als sie merkte, was sie tat. »Erinnert Ihr Euch, dass Ihr mich gefragt habt, wie Ihr mit ihr umgehen sollt? Ihr müsst mir alles über sie erzählen. Dann kann ich es Euch sagen.«
»Deshalb bin ich gekommen. Ich glaube nicht, dass ich ihr einen Brief schreiben werde über... du weißt schon, den Mord. Wenn, dann spreche ich sie darauf an. Deshalb musst du nicht mehr Lesen lernen.«
»Ich muss nicht mehr?« Sie hätte sich ohrfeigen können dafür, so einfältig zu klingen.
Er lachte. »Ich weiß, dass du dich damit gequält hast. Du wolltest mir nur helfen. Wenn ich je etwas für dich tun kann, sag es mir.«
Ungläubig starrte sie ihn an. So etwas hätte er früher nie gesagt. Dasselbe schien er zu denken und er lächelte versonnen. »Ich habe viel von Faunia gelernt.«
Baltibb ging durch die Wiesen, als die Sonne am Horizont versank. Nur ein glühender violetter Streifen am Horizont wehrte sich noch tapfer gegen die steigende Dunkelheit. In den Fenstern des Palasts flammten Lichter auf, heller als die Glühwürmchen, die den Waldrand umschwebten.
Baltibb weinte. Sie hatte so lange nicht geweint, sie konnte sich gar nicht mehr an das letzte Mal erinnern. Es hatte nie einen richtigen Grund dazu gegeben. Auch jetzt gab es keinen, und dass ihre Tränen in gewisser Weise unberechtigt waren, schmerzte sie vielleicht am meisten.
Sie hatte lesen gelernt. Ganz alleine. Stunden, Nächte hatte sie das Buch studiert, das er ihr gegeben hatte. Sie konnte es fast auswendig - Berichte über den Bau neuer Brücken an der Ostseite des Palasts, die sie noch nie betreten oder gesehen hatte.
»Unsinnig«, sagte sie, während ihr die Tränen aus den Augen liefen und sie durch die Gräser stapfte, den Blick zum Horizont gerichtet, wo der violette Streifen in der Nacht ertrank. »Vollkommen unsinnig.«
Der Mond ging auf. Er war weder halb noch voll, wie ein unförmiger Lichtklecks. Die Bäume verwischten in der Dunkelheit, und bald war alles schwarz außer dem schwachen silbrigen Hauch, mit dem der Mond die Gräser belegte. Baltibb erreichte einen Weiher, über den sich eine einsame Eiche beugte. Sie lehnte sich dagegen und beruhigte sich vom Weinen. Dann fiel ihr Blick auf das Wasser: Es zeigte ihr Spiegelbild. Das Elend, das sie fühlte, fand Worte.
Sie betrachtete das Wesen, das ihr aus der Dunkelheit entgegenblickte, die kleinen Augen und die lange Nase. Den Mund, dem die Lippen zu fehlen schienen. Das krause schwarze Haar. Sie hätte nicht einmal sagen können, ob sie wie ein Mädchen aussah. Wie eine Frau bestimmt nicht. Sie war einfach... reizlos. Sie biss fest die Zähne zusammen, aus Angst, wieder schluchzen zu müssen. Aber Tränen können nur bis zu einem gewissen Punkt Linderung bringen. Was Baltibb fühlte, war unabwendbare, überrollende Verzweiflung, die verstummen lässt: das Schweigen der Hoffnungslosen.
Nun begriff sie, dass sich der Hass, der schon so lange in ihr siedete, gegen sie selbst richtete.
Gegen das Gesicht im Wasser, das sie verhöhnte. Egal wie zart die Gefühle sein mochten, die sie empfand, dieses Gesicht würde sie immer ins Lächerliche ziehen, zu etwas Groteskem, Bedauerlichem machen. Mit zitternden Fingern berührte sie ihre knochigen Wangen. Sie fühlte ihr hartes Kinn und den Schlitz eines Mundes. Sie hasste sich. Sie hasste sich und verabscheute sich. Ganz langsam fuhr sie mit den Fingernägeln über ihre Wangen, immer wieder, bis das heiße Brennen dem inneren Schmerz glich und Blut ihren Hals hinablief.
Ihr Vater war noch wach, als Baltibb zurückkehrte. Stur saß er am Tisch und wartete. Mond kam auf Baltibb zu und sprang sie mit wedelndem Schwanz an.
»Wo warst du den ganzen Tag?«, fragte ihr Vater.
»Bei den Pferdekoppeln.«
»Und gestern?« Seine Stimme bebte. »Und vorgestern? Und den Tag davor? Lüge mich nicht an.«
Sie stand reglos da, blickte weder ihn noch Mond an. Sie wollte etwas sagen, aber ihr war einfach alles egal. Ihr Vater schnellte hoch.
»Was ist mit deinem Gesicht passiert?«
Sie zuckte zusammen. Selbst das, was sie da getan hatte, war lächerlich. Ein einziger Witz.
»Wo kommen diese Kratzer her?
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