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Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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ihr Lächeln im stillen Wasser.
    Zwei Tage später sah sie die beiden mit eigenen Augen. Obwohl sie heute nicht mit Lyrian zum Lesen verabredet war, trieb Baltibb sich in der Nähe der Pagode im hohen Federgras herum, schlug mit einer Haselnussrute nach den wuchernden Brennnesseln und wollte sich nicht eingestehen, dass sie insgeheim wartete - nein lauerte. Immer wieder hielt sie in ihrem gedankenlosen Zerstörungseifer inne und lauschte. Der Wind murmelte in den weißen Gräsern und trug Geräusche aus der Ferne heran. So hörte Baltibb das Lachen, lange bevor Lyrian und das Mädchen auftauchten. Sie warf die Rute weg und zog sich in die Schatten einer alten Zeder zurück. Schließlich lösten sie sich aus dem raschen Muster von Licht und Schatten. Baltibb spürte, wie sich in dem Moment, in dem sie ihr Gesicht sah, eine eiserne Faust um ihr Herz schloss: Das Mädchen war bestürzend schön.
    Die beiden betraten die Pagode, streiften um die Vogeltränke und umeinander. Die Hände des Mädchens, weiße Hände, die gewiss nie gearbeitet, nur Pinsel gehalten, Briefe durchblättert hatten, glitten durch das Wasser und brachten die Lichtadern zum Erzittern. Sie sah ihm direkt in die Augen. Und sie lachte und bewegte sich mit einer Respektlosigkeit, die man ihr mit der Peitsche austreiben sollte. Nicht einmal ein ranghoher Drache hätte sich vor Lyrian wie ein Ebenbürtiger verhalten dürfen, ganz zu schweigen von einem niedrigen Menschenmädchen.
    Die beiden verließen die Pagode, ohne Baltibb zu entdecken, und gingen durch die Gärten. Sie folgte ihnen. Der Wind, das Zirpen, Zwitschern und Knarren übertönte ihre Schritte. Im flackernden Dunkel des Waldes war sie unsichtbar.
    Das Mädchen schwenkte ein langes Federgras durch die Luft wie ein Zepter, während sie sprachen, zupfte daran - schlug es Lyrian gegen die Brust! Baltibb sackten fast die Knie ein, als sie beobachtete, wie er ihr den Grashalm in die Haare steckte. Das Mädchen neigte den Kopf nach links und rechts und sagte etwas, und sie lachten, und sie drehte sich im Kreis, dass ihr blasses gelbes Kleid um ihre Beine wehte.
    Sie liefen unter alten Steinbogen hindurch, die über und über mit wilden Rosen bewachsen waren. Kurz verlor Baltibb sie in den tiefgrünen Schatten aus den Augen, doch dann tauchten sie am Ende des Rosentunnels wieder auf, überquerten eine Steinbrücke, die über einen kleinen Wasserfall führte, und kletterten von Stein zu Stein über den Fluss. Auf einem Felsblock mitten im Wasser blieben sie sitzen. Hinter ihnen fiel ein breiter Lichtstrahl durch das Laub und trennte sie von Baltibb wie ein Vorhang aus Gold. Auf dem Felsblock hatte sie einst mit Lyrian gesessen, vor Jahren, als sie Kinder gewesen waren und er sie fast jeden Tag besucht hatte. Sie hatten über den Fluss geredet und sich gefürchtet hineinzufallen, weil unter der Oberfläche Schlingpflanzen waren, die einen fesselten und hinunterzogen. Er und das Mädchen sprachen über andere Dinge, das konnte sie sehen. An den Blicken, die sie sich zuwarfen, aber vor allem an den Blicken, die aneinander vorbeigingen: Wenn Lyrian auf den Fluss sah oder zu den Bäumen hoch oder zu den Wasserlilien, dann nahmen seine Augen gar nichts wahr. Erst wenn sie das Mädchen streiften, erwachte er. Sekundenbruchteile, die Baltibb in Zeitlupe erlebte. Wenn sein Blick die Lippen des Mädchens berührte... und er musste dabei dasselbe denken wie Baltibb, nämlich dass diese Lippen und Wangen und diese Stirn blass und zart waren wie Blüten.
    Baltibb blieb zwischen den Lilien stehen, die das Ufer schulterhoch umwucherten, und starrte durch den Lichtschleier, der die beiden von dem Rest der Welt und ihr trennte.
     
    Am nächsten Tag kam er zum Leseunterricht. Baltibb spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte, als sie den Fuchs aus den Gräsern auftauchen sah und er Menschengestalt annahm. So lange hatte sie gehofft, er möge wiederkommen, aber jetzt wünschte sie ihn mit nie erlebter Heftigkeit fort.
    »Hallo, Tibb. Entschuldige, dass ich so lange nicht gekommen bin. Ich hatte viel zu tun.«
    Baltibb konnte nichts sagen. Sosehr sie wollte, ihre Zähne gingen nicht auseinander.
    »Was ist?«
    »Ihr hattet viel zu tun, Majestät?« Jedes Wort fühlte sich wie ein Stein an, der sich seinen Weg über die Zunge kämpfen musste.
    Er lächelte. »Also schön, ich erzähle es dir: Ich habe sie wiedergetroffen. Mehrmals in den letzten zwei Wochen.«
    Warum? Warum? Die Frage schrie aus Baltibb heraus, aber sie

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