Rabenmond - Der magische Bund
vom Volk ab, um sich zu schützen, und vor allem um einen Mythos aus sich zu machen. Ihre Zauberkräfte stellten sie als Beweis für ihre Überlegenheit dar. Mit der Zeit erfanden sie immer mehr und immer fantastischere Lügen. Sie verwischten die Wahrheit ihres Ursprungs so erfolgreich, dass die Drachen heute wahrscheinlich selbst nichts mehr davon wissen.«
Baltibb starrte den blinden Führer ungläubig an. Nicht nur sie rang um Fassung. Auch die übrigen Männer und Frauen, die diese Geschichte zum ersten Mal hörten, wirkten sprachlos.
»Wir alle«, fuhr Nethustra fort, »sind in dem Glauben aufgewachsen, dass unsere Welt beständig ist, solange die Drachen über uns wachen. ›Was war, das ist und wird sein‹ steht in den Steinwällen des Drachenpalasts - und ich möchte behaupten, es ist die einzige Wahrheit, die je in diesen Mauern zugelassen wurde, auch wenn die Drachen sie selbst nicht begriffen haben. Sie meinen, ihre Herrschaft war, ist und wird für immer sein. Dabei ist die Geschichte der Menschheit bestimmt von Zerfall und Wiederauferstehung. Und genau das, der ewige Wechsel der Macht, war, ist und wird immer sein. Die Freiheit der Volksherrschaft wird der Effizienz des Königtums geopfert, das Königtum fällt in Tyrannei um und wird von einer Elite gestürzt. Die Revolution bringt eine neue Volksherrschaft und alles beginnt von vorne. So setzt sich der Kampf um die Macht fort, Lügen werden zur Wahrheit und die Wahrheit wird zur Lüge, Menschen schlachten einander für die immer gleichen Vorstellungen von einer besseren Welt ab. Das ist der geheime Bund, den wir alle miteinander eingehen. Der Pakt von Natur und Verstand, der unsere Geschichte vorantreibt wie ein rollendes Rad, und was heute oben ist, ist morgen unten.«
Nethustras Anhänger kamen und gingen, während er seine Erzählung fortsetzte. Baltibb sah einen kräftigen, düster dreinblickenden Bauern mitten im Gespräch aufstehen, weil ihm Tränen über die Wangen liefen. Jungen und auch ein paar Mädchen, die kaum älter waren als sie, gesellten sich zu ihnen, lauschten eine Weile und zogen sich bald mit Büchern und Schriftrollen unter den Armen in die Winkel der Bibliothek zurück. Baltibb blieb. Auch Kasamé lauschte Nethustra andächtig, wobei sie Baltibb immer wieder prüfende Blicke zuwarf.
Es musste bereits Mittag sein, da erschien der Junge, der Baltibb gestern Abend nach dem Namen des Prinzen gefragt hatte. Er trug ein Wams aus dunkelblauem Samt, das seine Schmächtigkeit gut kaschierte. In seiner Begleitung war ein blondes Mädchen, bei dessen Anblick sich etwas in Baltibb verkrampfte. Sie war schön und kühl wie der Frühling, mit hellgrünen Augen, die einen erfrieren ließen. Baltibb spürte eine sehnsüchtige, dunkle Abneigung gegen sie wie gegen alle hübschen Menschen.
Die beiden nahmen in der Runde Platz und der Junge nickte Baltibb zum Gruß zu; die junge Frau schien alles um sie herum zu übersehen.
»Wer hat sich dazugesetzt?«, fragte Nethustra freundlich, dem noch kein Neuankömmling entgangen war.
Der Junge beugte sich zu ihm vor. »Atlas und Faunia.«
Baltibb erstarrte. »Was?«
Alle sahen sie an. »Du... heißt Faunia?«
Der Blick des Mädchens streifte sie. »Und wer bist du ?«
»Baltibb.« Sie spürte, dass man eine Erklärung von ihr erwartete. Mühsam fuhr sie fort: »Ich kannte eine Faunia. Sie war ein Malerlehrling der Gilden.«
Das Mädchen und der Junge tauschten einen Blick.
»Dann kennst du Faunia also«, sagte Atlas. »Sie gehörte der Malergilde an, ehe wir geflohen sind.«
Verwirrt starrte Baltibb die beiden an. Allmählich begann sie zu begreifen... ein albernes Grinsen huschte über ihr Gesicht. »Entschuldigt mich«, murmelte sie und stand auf.
»Soll ich mitkommen?« Kasamé machte Anstalten, ihr zu folgen, doch sie schüttelte hastig den Kopf.
»Ich brauche nur ein bisschen frische Luft.«
Nethustra nickte verständnisvoll. »Komm zurück, wann immer du willst.«
»Das werde ich.« Baltibb lief den Gang zurück und die Treppen hinab. Als sie die Tür aufstieß und in den kühlen Nieselregen trat, atmete sie tief durch. Mond lief aufgeregt um sie herum, froh, sich endlich wieder zu bewegen.
Eine Weile liefen sie ziellos durch Albathuris. Auf einem offenen Platz feilschten noch immer die Karawanenhändler mit den Rebellen um Tiere, Lebensmittel und Waffen. Baltibb machte einen weiten Bogen um sie. Als sie allein und ungesehen im dampfenden Herbstregen war, begann sie, in sich
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