Rabenmond - Der magische Bund
Rundgang, der ganz und gar mit Bücherregalen tapeziert war. Hier herrschte sorgfältige Ordnung: Die Folianten waren sauber beschriftet, auch die Regale wiesen Markierungen auf. Holzschatullen bargen kostbar wirkende Schriftrollen.
Im Näherkommen sah Baltibb, dass der Gang sich zu einem Erker öffnete. Fensterschlitze in der Steinmauer ließen Streifen leichenhaften Tageslichts ein. Auf dem Boden saß eine Gruppe, in der Baltibb Nethustra entdeckte. Als er ihre Schritte hörte, hob er die Brauen.
»Kasamé und die Prinzfreundin«, murmelte jemand neben ihm.
Ein Lächeln breitete sich auf Nethustras Gesicht aus. »Ich habe auf euch gewartet. Bitte, setzt euch zu uns.«
Die Rebellen hatten bereits Platz gemacht und Baltibb und Kasamé ließen sich nieder. Leises Murmeln lief durch die Menge. Baltibb hörte ihren Namen und Drachen und Prinz . Alle sahen sie an.
»Wir besprechen gerade die Schriften, die unsere Freunde aus Modos mitgebracht haben. Höchst interessant. Nun müssen wir uns nur noch überlegen, wie wir diese Gedanken der ungebildeten Welt verständlich machen.«
Gutmütiges Lachen erscholl. Dann hob Nethustra die Hand, es wurde ruhig. »Baltibb, ist dies das erste Mal, dass du Bücher siehst?«
»Ich habe schon mal eins gelesen.«
Nethustra runzelte die Stirn - er war nicht der Einzige.
»Der Prinz hat mir eines gegeben. Über Bauarbeiten im Palast.«
»Du hast einen großen Vorteil. Wenn du lesen kannst, kannst du lernen. Das ist die mächtigste Waffe gegen Lüge und Ungerechtigkeit. Nun sieh dich um.«
Baltibb gehorchte. Sie erkannte ein paar Leute von gestern Abend wieder. Manche trugen Gewänder aus Samt, andere waren in alte Lumpen gehüllt und hatten zerfurchte Gesichter, die von einem Leben harter Arbeit erzählten.
»Die Männer und Frauen, die neben dir sitzen, sind Gildenmitglieder, Bauern, Ruinenleute, Wildsammler und entflohene Krieger. Die Privilegierten unter ihnen hatten seit jeher Zugriff auf Bücher. Trotzdem haben wir alle, Gildenmitglied wie Ruinenarbeiter, erst hier echte Bildung erfahren, denn die Drachen sind gut darin, den Geist der Menschen gefangen zu halten. Wir sind alle gleich, geeint durch den Mut, nach der Wahrheit zu suchen. Willst du die Wahrheit finden?«
Baltibb hatte in ihrem Leben vieles nicht verstanden und einfach hingenommen. Aber schließlich war sie hier, weil dieses Leben gescheitert war. Wenn sie nicht mehr an die Führung der Drachen glaubte, konnte sie ebenso gut versuchen, an irgendetwas anderes zu glauben - die alten Bücher, den blinden Rebellenführer, sich selbst.
»Ja«, sagte sie.
Nethustra legte den Kopf leicht zurück. Fast konnte man meinen, er spürte das fahle Licht auf seinem Gesicht. »Das ist gut. Die unter euch, die lesen können, werden hier viele Bücher finden, die das bestätigen, was ich euch nun erzählen werde. Ich erwarte, dass ihr meine Worte anzweifelt und nach Beweisen sucht. Von nun an sollt ihr nie wieder glauben. Ihr sollt wissen. Wenn ihr das Lesen erst erlernen müsst, verzagt nicht: Wir werden gemeinsam Bücher lesen und besprechen. Welche Fragen ihr auch haben werdet, die Antworten sind in greifbarer Nähe.
Lasst mich so beginnen: Was ihr gelernt habt über die Drachen, was ihr über Wynter zu wissen meint, es ist eine Lüge.«
Baltibb warf einen Blick in die Runde. Die meisten sahen Nethustra an, aber manche starrten dumpf auf den Boden. Jeder Einzelne von ihnen hatte eine Geschichte, einen Grund, warum er hier war. Was mochte ihnen zugestoßen sein? Was erhofften sie sich von Albathuris? Baltibb konnte es nicht mal über sich selbst sagen.
»Die Geschichte der Menschheit lässt sich mit den Fundstücken, die wir haben, nur ein paar Jahrhunderte zurückverfolgen. Aber dahinter liegen Jahrtausende, die für uns verloren sind und von denen jeden Tag, an dem die Drachen regieren, eine Spur mehr verschwindet. Eines wissen wir mit Sicherheit, denn in den freien Staaten der Menschen ist die Geschichte unserer Vorfahren leichter nachzuverfolgen: Es gab einen großen Krieg, der die Welt beinahe vernichtet hätte. Alles, was sich davor ereignete, ist im Dunkel der Vergangenheit versunken. Manche Bücher machen Andeutungen über eine gänzlich andere Welt voller geheimnisvoller Zauber und einer Fülle an Wissen und Erfindungen. Nur die Fantasie kann uns eine Vorstellung davon geben, wie sie ausgesehen haben mag.
Der große Krieg verwischt alles. Nur Ruinen sind von der Welt unserer Vorväter geblieben. Der gesamte
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