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Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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hinauf. Eine Laterne hing über dem Eingang und beleuchtete die kunstvolle Schnitzerei in der Tür: Links blickte ihnen das Gesicht einer anmutigen Frau entgegen, rechts bleckte ein schauderhafter Dämon seine Zähne. Jagu schloss wieder mit dem silbernen Knauf auf und sie betraten eine Eingangshalle.
    Mion schlug ein Geruch entgegen, der sich in all ihren künftigen Gedanken an das Haus verankern sollte. Es war seine Aura, sein zweites Gesicht: der eindringliche, knetige Geruch von Ölfarben. Jagu nahm eine Lampe von der Wand und führte Mion in einen Korridor.
    Im Vorbeigehen glitt der Lichtschein über große, von schweren Rahmen eingefasste Gemälde. Gesichter unbekannter Menschen tauchten aus der Finsternis auf und verschwanden wieder. Mion schauderte und wusste nicht, ob vor Faszination oder Unbehagen. Hatte Jagu all diese Bilder gemalt? Sie sahen so echt aus, als wären irgendwann Menschen in der Zeit stecken geblieben. Ihr schoss eine Gänsehaut über die Arme. Rasch lief sie dem Meister nach.
    Der Korridor mündete in einen Pavillon, dessen Stirnseite von Fenstern durchzogen war. Ein riesiger Kronleuchter hing von der Decke wie ein Seeungeheuer aus Messing und warf einen langen Schatten.
    Sie erklommen eine Spiraltreppe. Das Holz knarzte laut unter ihren Schritten. Im oberen Stockwerk war alles aus demselben Holz gezimmert, Wände und Fußboden schimmerten rötlich im Licht der Öllampe. Hier wirkte alles schlicht im Vergleich zum imposanten Erdgeschoss - wahrscheinlich weil Gäste nur unten empfangen wurden.
    Durch gewölbte Fenster blickte man auf den Innenhof und das Gebäude auf der anderen Seite, das, wie Mion jetzt erkannte, kein zweites Haus war; es war alles ein Gebäude, das den Hof umschloss wie ein riesiges Viereck.
    Endlich machte Jagu vor einer Tür Halt.
    »Das wird dein Schlafzimmer sein.« Er ließ Mion eintreten. Als er die drei Lampen angezündet hatte, drehte sie sich langsam im Kreis und betrachtete den Raum.
    Die Wände und der Fußboden waren mit Teppichen bedeckt. Ein Bett mit einem Samtbaldachin beherrschte das Zimmer, das sich einem großzügigen Kamin entgegenstreckte. Auf den ersten Blick schätzte Mion, dass das Bett größer war als die ganze Schlafkammer ihrer Eltern, der Kamin war höher als ihre Haustür. Drei Fenster ließen die Sicht auf den Hof zu. Neben der Tür standen ein Schrank, eine Kommode mit einer Waschschüssel und ein Spiegel.
    »Den Kamin kannst du anmachen, hier ist Holz und Feuer hast du ja von den Lampen. Morgen wird dir jemand frische Kleider bringen. Nun schlaf ein wenig. In ein paar Stunden wird es hell.«
    Mion drehte sich zu Jagu um. Ihr wurde bewusst, dass sie einem vollkommen Fremden gegenüberstand. Wer war er bloß? Was hatte sich in den letzten Stunden zugetragen, dass sie hier gelandet war? Es schien ihr wie eine aberwitzige Reise fort aus der Wirklichkeit.
    »Ich dachte, eine Dachkammer oder eine Küche...«
    »Willst du lieber beim Gesinde schlafen?«
    »Nein«, sagte Mion schnell - nicht weil sie ernsthaft glaubte, dass er seine Entscheidung jetzt noch ändern würde, aber sie wollte nicht undankbar wirken. »Ich hätte nicht mal eine Küche erwarten dürfen.« Sie wollte Danke sagen. Sagen, dass sie ihm das Leben schuldete. Aber wie hätten die einfachen Worte ausdrücken können, was sie empfand.
    Jagu sah sie schweigend an. Dann deutete er ein Nicken an und zog die Tür hinter sich zu. Mion blieb allein im Zimmer stehen, barfuß und schmutzig, den wollenen Schal um die Schultern, der kaum wahrnehmbar nach Tabak duftete.
     
    Als die Lampen gelöscht waren, trat Mion an die Fenster und legte beide Hände ans unebene Glas. Mit den Augen folgte sie dem Lichtfleck, der sich durch die Dunkelheit bewegte, für eine Weile verschwand und auf der anderen Seite des Hauses wieder auftauchte.
    Lange stand sie am Fenster und beobachtete den Schatten jenseits der Vorhänge, der unermüdlich auf und ab ging.

Das Atelier
    A ls Mion erwachte, blieb sie eine Weile mit geschlossenen Augen liegen, aus Angst, alles könnte nur ein Traum gewesen sein.
    Doch die Decken unter ihrem Gesicht fühlten sich wundervoll weich und echt an... sie zog die Schultern hoch und kuschelte sich tiefer hinein. Auch wenn sie nicht mehr als vier Stunden geschlafen haben konnte, war es die beste Nacht ihres Lebens gewesen.
    Schließlich blinzelte sie, und beim Anblick der lichtdurchfluteten Fenster bekam sie solches Kribbeln, dass sie ihr Aufjauchzen mit den Kissen dämpfen musste.

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