Rabenmond - Der magische Bund
schreiten sahen, zogen sie das Tor auf und blickten sich aufmerksam um.
Klirrend fiel das Gittertor hinter ihnen zu. Die Nacht war schwarz bis auf tropfengroße Lichter, die aus Hütten oder von den Stadtmauern glommen. Es schneite. Flocken landeten auf Mions Nasenrücken. Doch das war nichts im Vergleich zu der Kälte in ihren Füßen.
Jagu ging schnell. Sein Umhang wehte hinter ihm her wie ein Stück Nacht. Am Ende der Straße sahen sie ein mächtiges, von Wachtürmen flankiertes Stadttor aufragen. Links und rechts der Straße standen Feuerschalen, die gierig nach den Flocken schnappten. Als sie den Fackelschein erreichten, blieb Jagu stehen, zog Mion an den Straßenrand und drückte ihr einen Gehstock in die Hand, den sie zuvor unter dem Umhang nicht gesehen hatte. Entgeistert blickte sie auf den silbernen Griff. Er stellte einen Rabenkopf dar. Jagu schloss ihre Finger darum.
»Du hast gesagt, du hast noch nie etwas gemalt - dann kannst du jetzt anfangen. Der Stock soll dein Stift sein, der Schnee die Leinwand. Fang an!« Trotz der Dunkelheit sah Mion ihm die Unsicherheit deutlich an. Bereute er jetzt schon, sie gerettet zu haben?
Schluckend streckte sie den Stock nach dem Schnee aus … machte einen Strich... Aber was sollte sie denn malen, in der Dunkelheit, einfach so? Sie wich vor Jagu zurück und umklammerte den Stock.
»Also, so schnell werdet Ihr mich nicht los! Und wenn mir in diesem Augenblick beide Hände abfallen, zurückschicken könnt Ihr mich nicht!«
Er grinste und nahm ihr den Stock wieder ab. »Also gut … du hast dein Talent bewiesen. Jetzt komm!«
Fünf Schritte weiter blieb er abermals stehen und Mion erwartete fast schon eine neue Probe, doch diesmal zog er sich nur den Schal vom Hals und wickelte ihr den weichen Stoff um die bibbernden Schultern. Ehe sie ein Danke murmeln konnte, war er weitergestapft.
Man ließ sie ohne Zögern in die Stadt ein, als Jagu sich als Mitglied einer Gilde zu erkennen gab: Der Sphinx warf einen kurzen Blick auf seinen goldenen Siegelring und schon durften sie passieren. Um Mion scherte sich niemand - als wäre sie ein Besitzstück des Malers, das er nach Belieben mitnehmen konnte.
Sobald die Löwenwachen hinter ihnen waren, hob Mion den Kopf. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie in Wynter, der Stadt, die wie ein Traumgespinst über ihrer Kindheit geschwebt hatte, lockend nah und unerreichbar.
Die Straßen waren ordentlich gepflastert, es gab keine Schlammgruben und Mion entdeckte keine einzige Ruine. Nichts, das an Zerfall und Vergangenheit erinnerte.
Sie hatte kaum die Häuser bestaunt, da hatte Jagu schon einen Wagenjungen herbeigepfiffen. Aus einer Seitenstraße kam er angelaufen, einen überdachten Wagen auf zwei Rädern hinter sich herziehend. Wie benommen ließ Mion sich hineinhelfen, dann nahm Jagu neben ihr Platz, steckte dem Jungen eine Münze zu und befahl ihm, loszufahren.
Der Wagen ratterte durch die Nacht. Mion versuchte hinauszuspähen, sah Gassen und Alleen, Marktplätze, Häuser und gelegentlich Gestalten. Die Straßen wurden immer breiter. Mächtige Eisentore glänzten im Schein der Laternen und Mauern schützten die Anwesen vor neugierigen Blicken.
»Leben hier die Drachen?«, flüsterte Mion ehrfürchtig.
Jagu lächelte. »Fast. Hier leben ihre Diener: Das ist das Viertel der Gilden. Die Häuser in der Straße dort gehören Mitgliedern der Handelsgilde... Und da, hinter diesen Mauern, lebt Icastoba, der Meister der Schneidergilde. Warte... jetzt kommen wir in die Straße der Spielleute.« Mion spürte, wie er ihr eine Hand auf den Rücken legte und sich vorbeugte. Leiser Stolz hatte sich in seine Stimme geschlichen, als gelte ihre Bewunderung nicht nur den prachtvollen Häusern, sondern auch ihm.
»Spielleute leben so ?«, fragte sie verwundert. Ein riesiges Tor zog an ihnen vorbei, das von zwei Marmorstatuen flankiert wurde. Trotz des Schnees konnte sie erkennen, dass die Statuen musizierende Frauen darstellten, und zu ihren Füßen hockte eine Ratte aus Stein.
»Es sind alte Familien von Musikern, Bühnenspielern und Geschichtenschreibern. Die meisten von ihnen unterhalten die Drachen schon seit Generationen. Die nächste Straße ist die der Maler. Wir sind gleich da.«
Vor einem großen, dunklen Anwesen hielt der Junge an. Hecken überdachten das Tor. Sie stiegen aus, und Jagu steckte den Rabenkopf seines Gehstocks in das große Schlüsselloch, um aufzusperren. Mehrere Stufen führten zu einer imposanten Haustür
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