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Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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lass ich mich nicht!«
    Jagu schenkte ihr ein kleines, herablassendes Lächeln. »Das, woran du denkst, wäre mir den ganzen Aufwand nicht wert. Dafür müsste ich dir nicht ein Zuhause und Kleidung geben.« Er schlenderte zur Tür und hielt noch einmal inne. »Du bist halb so alt wie ich. Und ich will dich als Lehrling. Ich meine, was ich sage.« Einen Moment ließ er seinen Worten Stille folgen. Dann wies er den Korridor hinunter. »Willst du frühstücken?«
    Sie zwang sich, die Fäuste zu senken. So gleichgültig, wie er sie nun ansah, kam es ihr fast lächerlich vor, was sie einen Moment lang befürchtet hatte. Mit einem tiefen Atemzug schüttelte sie ihre Gedanken ab. »Sagt mir endlich, wieso Ihr mich hergeholt habt. Ich habe mir die halbe Nacht lang den Kopf darüber zerbrochen und versteh es immer noch nicht.«
    Ohne Antwort zu geben, verließ er die offene Tür. Mion blieb nichts anderes übrig, als ihm nachzulaufen.
     
    Das Esszimmer war ein großer, achteckiger Raum im Erdgeschoss, der ganz aus dunklem Stein bestand. Auf dem Tisch stand eine Schüssel mit Brotsuppe, dazu Wasser und Milch. Mion trank zuerst die Milch - wie lange war es her, dass sie welche gekostet hatte! Obwohl die Brotsuppe nicht mehr ganz warm war, schmeckte sie vorzüglich.
    Jagu hatte sich am Tischende niedergelassen und beobachtete sie, das Kinn in die Hand gestützt. Sie entschied, ihn zu ignorieren, aber schließlich hob sie doch den Blick und sah ihn forschend an.
    »Wieso hast du den Drachen erschossen?«, fragte er.
    Sie schluckte und senkte den Löffel. Konnte sie ihm die Wahrheit sagen? Ihr blieb wohl nichts anderes übrig... Hätte es eine andere plausible Erklärung gegeben, hätte sie sofort gelogen.
    »Ritus«, sagte sie kurz und aß weiter.
    »Was?«
    »Ihr wisst schon... Ritus.« Sie schwenkte vage den Löffel. »Man braucht ein kleines Tier und...«
    »Ein kleines Tier, du sagst es. Wie groß war der Drache? Bestimmt war er keine Kaulquappe.«
    »Es war eine Mutprobe«, sagte Mion gepresst.
    Er beugte sich vor. »Hast du überhaupt eine Ahnung, was mit dir passieren könnte, wenn du den Atem eines großen Tieres in dich aufnimmst?«
    Sie erwiderte nichts - natürlich hatte sie keine Ahnung gehabt. Deshalb hatte sie es ja ausprobieren wollen.
    »Der Atem, der beim Tod eines Wesens ins Jenseits entschwindet, ist unterschiedlich stark, je nachdem wie komplex das Wesen körperlich und geistig war. Wenn man sich bei Ritus den Atem eines Regenwurms aneignet und sich von ihm ein Stück ins Jenseits mitnehmen lässt, empfinden die meisten Menschen das als berauschend. Ein kurzer Blick auf das, was nach dem Tod kommt. Nun rate mal, was passiert, wenn du ein großes Tier tötest. Der Atem oder die Seele, wie manche behaupten, nimmt dich direkt ins Jenseits mit.« Er lehnte sich wieder zurück. »Der Drache hat dich vor dem Tod bewahrt, ist dir das bewusst?«
    Mion starrte ihn an, ohne zu merken, dass Suppe von ihrem Löffel tropfte.
    »Um ehrlich zu sein...« Er klimperte mit den Fingern auf die Armlehne. »Ich hatte erwartet, dass du einen besseren Beweggrund hättest. Eine politische Einstellung. Gesellschaftliche Unterdrückung. Persönliche Rache, wer weiß - irgendeine der niedrigen Gefühlsregungen, die uns Menschen beherrschen, wie die Drachen sagen.«
    »Wenn Ihr die Wahrheit gekannt hättet, wärt Ihr nicht gekommen, um mich zu retten, oder?«
    »Doch, vielleicht. Aus Sympathie.«
    »Mein Beweggrund... reicht der trotzdem aus, um Euer Lehrling zu sein?«
    Er lächelte. »Du möchtest also hierbleiben?«, fragte er leise.
    Mion nickte.
    »Du wirst deine Familie nicht sehen. Vielleicht nie wieder. Das hier ist ab jetzt dein Zuhause.«
    Ein kurzes Stechen durchfuhr sie, als sie an Mirim dachte, der nun ganz allein im Bett schlief. Und ihre Eltern... jetzt, wo sie sie für tot hielten, vielleicht liebten sie Mion da mehr als früher?
    »Ich will hierbleiben. Und eine Künstlerin werden.«
    Jagu nickte. »Iss auf. Sonst wird alles kalt.«
    Sie gehorchte und schaufelte sich die Suppe hastig in den Mund.
    »Und, Mion?«
    »Hmf?«
    Er hatte das Gesicht wieder in die Hand gestützt und sah sie nachdenklich an. »Versuche mal, mit geschlossenem Mund zu kauen. Sitz gerade da. Und stütz die Arme nicht so auf, als müsstest du deinen Teller vor feindlichen Angriffen schützen.«
    Mion fand das nicht halb so vergnüglich wie offenbar ihr Meister. Doch als sie sich Suppe von der Unterlippe wischte, musste sie verstohlen grinsen.

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