Rabenmond - Der magische Bund
lag.
Eine Gestalt tauchte auf. In der Dunkelheit war sie kaum auszumachen. Sie hielt sich dicht an der Wand und trug einen langen nachtblauen Umhang. Alles in Mion zog sich zusammen.
Er war da.
Er war tatsächlich gekommen.
»Viele von euch haben gerätselt, wer der Verfasser des heutigen Stückes sein wird. Nun kann ich verraten, dass jeder von euch seinen Namen kennt - und ihn noch nie gesehen hat.«
Erstauntes, belustigtes Raunen ging durch die Reihen der Zuschauer.
»Er heißt Wahrheit.«
Mion riss sich von der Gestalt los und blinzelte Jagu überrascht an. Er löste den Griff um ihre Hand.
»Und die Wahrheit kennt keine Scham und keine Tabus. Meine Damen und Herren, ich präsentiere das heutige Schauspiel, geschrieben von der Wahrheit, aufgeführt vom Leben: Der Prinz der Drachen liebt ein Menschenmädchen!«
Stille. Irgendwo ängstliches Luftschnappen. Für Mion versank die Welt in tauber Leere. Fassungslos starrte sie Jagu an - sein Blick traf ihren für eine endlose Sekunde. Dann stieg er von der Bühne und schritt langsam an den Sitzreihen entlang.
»Wir haben viel ertragen, liebe Freunde. Wir sind mit gebeugtem Rücken und gesenktem Haupt durchs Leben geschlichen, mit dem festen Glauben an das Höhere. Menschen sind schlecht, das wissen wir alle - jeder von uns wird von niederen Gefühlen getrieben, Gier, Neid, Zorn - alles von Menschen Gelenkte endet früher oder später in Chaos. Die Drachen sind unsere Rettung! Nicht wahr? Die Drachen führen einen glorreichen Krieg gegen die Geschwisterstaaten! Die Drachen beschützen unsere Handelswege und unser Land! Ist es nicht so?« Er lachte humorlos und brach abrupt ab. »Aber wenn Drachen nun doch Gefühle hätten wie Menschen, wären sie nicht besser als jeder Einzelne von uns.«
Panik brach aus. Gildenleute sprangen von ihren Plätzen auf und versuchten, den Saal zu verlassen, bevor die Sphinxe kamen und alle verhafteten. Jagu drehte sich zur Bühne um und streckte die Hand aus.
»Hier ist das Mädchen, das der Prinz der Drachen liebt«, schrie er. »Faunia!«
Mion schluchzte auf. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie eine zierliche Gestalt die Bühne betrat.
Langsam kam Faunia auf sie zu. Ein Grinsen flackerte auf ihrem Mund. Plötzlich zog sie einen langen Ritusdolch hinter dem Rücken hervor, riss Mion zu sich heran und legte ihr die Klinge an die Kehle.
Sie fühlte ihr keuchendes Lachen am Ohr. Ihr Arm drückte ihr gegen die Brust, dass sie keine Luft bekam. »Du hast das Herz eines Drachen gestohlen. Ich sage, wir schneiden es heraus!« Der Dolch blitzte über ihr auf.
»Nein!«
Schreie wogten durch die Menge. Diejenigen, die sich bereits auf den Weg nach draußen gemacht hatten, stürzten entsetzt zurück, denn auf der Treppe stand ein Drache.
Schwingen sprossen ihm aus dem Rücken. Fangzähne blitzten zwischen seinen Lippen. Laut befahl er: »Lass sie los.«
Faunia drückte Mion wieder die Klinge an den Hals. Das scharfe Metall schnitt in ihre Haut.
»Unser Held«, rief Jagu, »der Prinz der Drachen!« Und er verbeugte sich galant vor Lyrian.
»Ich befehle, dass sie losgelassen wird.«
Jagu wandte sich zur Bühne um. Mion rang nach Atem. Sie erkannte ihn nicht wieder.
»Ihr wird nichts geschehen«, sagte Jagu ruhig, »wenn Ihr zugebt, dass Ihr sie liebt. Sonst stirbt sie.«
Mion spürte, wie etwas in ihr erlosch.
»Drachen kennen kein Mitleid!« Jagus Stimme donnerte erbarmungslos durch den Saal. »Lasst sie sterben, Drachenprinz! Ihr Leben ist wertlos. Es sei denn, Ihr liebt sie.«
Sie würgte, als der Dolch ihr die Luft abschnürte. Lyrian starrte sie an.
Die Drachen oder sie.
Die Wahrheit oder die Lügen, auf denen die Welt erbaut war.
Sein Verstand oder sein Herz.
Verstand oder Herz.
Lyrian öffnete die Fäuste. Das Haar fiel ihm über die Augen und legte sein Gesicht in Schatten. »Ich liebe sie.«
Samt und Federn
C haos brach aus.
»Der Prinz der Drachen liebt ein Mädchen!«, schrie Jagu. Forschen Schrittes kam er auf Lyrian zu und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Die Drachen sind Menschen. Sie sind Menschen! Sie können sich in Tiere verwandeln, weil sie einen dunklen Zauber durchführen. Ich kenne das Geheimnis des Gestaltenwandels, denn der Prinz hat es dem Mädchen verraten!« Er drehte sich im Kreis, sah die Gildenmitglieder an. »Zur Wintersonnenwende töten die Drachen Tiere, rauben ihnen den Atem und entlassen ihn erst im Tausch gegen den Korpus ins Jenseits. Jeder von uns kann das Ritual durchführen.
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