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Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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aufging. Stockend griff sie die Haarbüschel an ihrem Hinterkopf und säbelte sie ab. Sie schnitt, so viel wie sie konnte, bis ihr Kopf nur noch von fingerlangen Stoppeln bedeckt war. Immer wieder strich sie darüber, fasziniert und entsetzt davon, was sie geworden war.
    Wenn Lyrian mich nur sehen könnte, dachte sie.
     
    Als sie am nächsten Morgen auf dem Kampfplatz erschien, erntete sie erstaunte Blicke. Der Wind blies ihr um den Nacken und sie sah sich herausfordernd um. Als sie gegen die Krieger antrat, spürte sie nichts mehr von dem früheren Spott - sie wurde nicht begünstigt, nicht geschont und nicht belächelt.
    An dem Tag verlangte sie ein echtes Schwert, das sie stets tragen konnte. Beron gab ihr eines. Sie wurde nicht mehr zum Gemüseputzen, Gärtnern und Stallausmisten gerufen, sondern hielt stattdessen im Wald oder auf den Schutzwall Wache. Man weihte sie ein, wenn Angriffe auf vorbeireisende Drachentruppen geplant oder Ruinenschätze von nahen Ausgrabungsstätten gestohlen wurden. Solche Vorhaben wurden in der Bibliothek besprochen, und bald waren dies die einzigen Gelegenheiten, bei denen sie die Welt der Worte und großen Reden aufsuchte. Entschlossen wartete sie auf den Tag, an dem sie sich beweisen konnte. Und er sollte kommen.

Wahrheit oder Tod
    M ion hatte fast vergessen, worauf sie wartete, so lange wartete sie schon, und dann kam er: der erste Schnee.
    Träge fielen die Flocken aus dem grauen Himmel. Ihre Fenster waren dick mit Frost überkrustet, und die Bäume im Hof, die ihr Laub noch nicht ganz verloren hatten, wirkten wie mit Kreide bestäubt. Beklommen dachte Mion an Ritus. Sie spielte schon lange nicht mehr, auch wenn keine Stunde verging, in der sie nicht drauf und dran war, in Jagus Zimmer zu laufen und den Kreidekreis zu ziehen. Aber dann fiel ihr ein, was Lyrian ihr über das Ritual der Drachen anvertraut hatte, und sie konnte nicht mehr. Sie wollte kein Tier mehr töten, nie wieder. Wenn Lyrian ein schlechtes Gewissen empfinden konnte, sollte sie als Mensch doch noch viel mehr Mitgefühl für die Tiere haben. Von nun an würde sie ihrem Gewissen folgen.
    Jagu merkte, dass Lyrians letzter Besuch einen Wandel in ihr ausgelöst hatte. Auch wenn sie nie über Ritus sprachen, begegnete sie in seinem Blick derselben quälenden Sehnsucht, die sie verspürte: Ohne sie spielte auch er nicht mehr.
    Er gab sich alle Mühe, sie zu unterhalten, und zeigte sich so fröhlich und gut gelaunt wie nie. Sie gingen zu Gildentreffen, doch dort herrschte noch schlechtere Stimmung als zu Hause: Bekannte Gesichter fehlten, und wenn man nach ihnen fragte, wagte niemand, Antwort zu geben. Es war erschreckend zu sehen, wie viele Gildenmitglieder tatsächlich vor den Drachen geflohen oder von ihnen festgenommen worden waren. Zumeist war nicht einmal klar, ob das eine oder das andere zutraf. Bei Banketten und Teerunden huschten immer wieder verstohlene Blicke zu den Fenstern, wo Raben landeten und sie aus blanken Augen beobachteten.
    Mion erwartete bei jedem Treffen, Atlas zu begegnen, aber sie sah ihn nie. Auch sein Vater und einige Lehrlinge fehlten, die mit ihm befreundet waren. Mion wagte nicht, nach ihm zu fragen, aus Angst, die endgültigen Blicke zu ernten, die das Schicksal so vieler anderer Gildenleute verrieten. Stattdessen beruhigte sie sich mit halbherzigen Erklärungen - wahrscheinlich hatte er viel zu tun und blieb deshalb zu Hause - ja vielleicht ging er ihr auch absichtlich aus dem Weg.
    Eines Abends hielt Mion die Ungewissheit nicht mehr aus und machte sich auf den Weg zu ihm. Der Frost knirschte unter ihren Schuhen, als sie die Straßen entlanglief, und jeder Atemzug fühlte sich an wie ein Schluck Wasser. Es tat gut, draußen zu sein und sich zu bewegen. Sie wünschte bloß, ihr Spaziergang hätte einen erfreulicheren Grund. Als das Anwesen des Schneidermeisters im blassen Abendlicht auftauchte, wurden ihre Knie weich. Nein, dachte sie, nein, nein, bitte nicht... Das Tor war aufgestoßen und verbogen. Im Erdgeschoss hatte jemand die Fenster eingeschlagen.
    Mion drehte sich um, weil sie nicht hinsehen konnte. Wankend stand sie da und versuchte, tief zu atmen. Atlas!
    Als sie wahrnahm, wie ein Rabe auf der nächsten Straßenlaterne landete, sammelte sie sich, zog sich die Kapuze ins Gesicht und ging mit zittrigen Schritten davon.
     
    »Sie haben Angst«, sagte Jagu, als sie am Abend im Atelier saßen, und schenkte Mion Tee ein. Er selbst ließ sich in den alten Polstersessel sinken und

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