Rabenmond - Der magische Bund
Jagu.
Mit verschränkten Armen lehnte er im Türrahmen, als würde er ein Theaterstück beobachten. Er wirkte älter als der Mann, der in den letzten Tagen in ihre Gedanken eingezogen war. Überhaupt machte er keinen sehr schmeichelhaften Eindruck. Die Schatten in seinem Gesicht schienen dunkler geworden zu sein, und das Leinenhemd war voller schwarzer Spuren, so als hätte er versucht, in einen Kamin zu klettern. Seine Haare standen in einer wirren Sturmwelle ab.
Mion spürte, wie sie rot wurde. Wie lange hatte er sie schon belauscht?
Die Alte grunzte missbilligend. »Dummkopf... Dummkopf! Nach welchen Kriterien hast du deinen Lehrling diesmal ausgewählt, hä? Was hast du in den Ruinen zu schaffen, Jagu? Bei allen Drachen, wirklich... Du, komm her!«
Mion gehorchte und trat vor die Treppe. Dabei hob sie den Gehstock vom Boden auf und überreichte ihn der Alten, was die offenbar für selbstverständlich hielt und kaum registrierte. Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie Mion. Dann stieß sie wieder scharf die Luft aus.
»Und das soll eine Künstlerin sein! Künstler schaffen Schönes, aber niemals - niemals - kann ein Künstler wie eine Muse aussehen. Schöne Menschen sind nicht begabt!«
Ehe Mion überlegen konnte, ob das ein Kompliment oder eine Beleidigung sein sollte, wandte die Alte sich um. »Jagu, ich erwarte dich in meinem Zimmer! Und du, Mola, hilf mir.«
Jagu kam Mion rasch zuvor und stützte die Alte beim Treppensteigen. Faunia war unbemerkt verschwunden.
»Pass auf, wo du deine schmutzigen Finger hintust, mach das nicht dreckig!«, murrte die Alte, während Jagu sie nach oben bugsierte. Kurz bevor sie außer Sicht waren, sagte Jagu zu Mion: »Warte hier.«
Eine halbe Stunde später erklangen Schritte auf der Treppe, und Mion fuhr aus dem Ohrensessel hoch, in dem sie bis jetzt unruhig herumgelümmelt hatte. Jagu kam die Stufen herab und blieb stehen, eine Hand am Geländer. Als er Mion ansah, kräuselte ein kleines Lächeln seinen Mund. Dann wies er auf die beiden Sessel beim Kamin.
Erschöpft ließ er sich in die Polster sinken und lehnte den Kopf zurück. Mehrere Momente der Stille verstrichen, während sie sich ansahen. Dann bemerkte Jagu den Umhang, den sie über der Lehne abgelegt hatte.
»Wo wolltest du hin?« Es klang nicht nach einer Frage, sondern nach einer Feststellung.
Mion zuckte die Achseln. »Wo wart Ihr die ganze Zeit?«
»Das geht dich nichts an.«
Schweigen. Mion wusste nicht, wo sie hinsehen sollte; sie wagte nicht, ihren Blick von seinem zu lösen, und kam sich gleichzeitig unhöflich dabei vor, ihn anzustarren.
»Du hast Osiril ja ganz schön beeindruckt«, bemerkte er schließlich und zog eine versilberte Pfeife aus seinem aufgeknüpften Wams.
»Ich hatte eher das Gefühl, dass sie mich nicht mag.«
Er stopfte die Pfeife. »Kann schon sein. Sie mag fast niemanden.«
»Ist sie... Eure Mutter?«
Jagu lachte auf, die spitzen Eckzähne erschienen in den Winkeln seines Mundes, und sein Gesicht verwandelte sich in ein so perfektes Oval, dass Mion die Möglichkeit einer Verwandtschaft mit der alten Frau ausschloss. »Nein, das ist sie nicht, zum Glück - auch wenn sie in vielerlei Hinsicht so viel für mich getan hat wie eine Mutter. Vielleicht sogar noch mehr. Osiril ist meine Meisterin gewesen. Sie hat mir all das hier vermacht, so wie einst Osirils Vater und Meister ihr. Sie war die Herrin des Hauses. Im Grunde ist sie es noch«, fügte er in amüsiertem Ton hinzu, als spräche er über einen freundlichen Poltergeist. »Sie hat mich als Lehrling angenommen, obwohl ich nicht ihr Sohn bin, und damit eine lange Gildentradition gebrochen. Ich glaube allerdings nicht, dass sie diesen Bruch von mir fortgesetzt sehen möchte. Solange... Faunia meine Nachfolgerin ist.«
Für Sekunden war Mion wie erstarrt. Die Vorstellung, dass eines Tages sie dieses Haus besitzen könnte - als Jagus rechtmäßige Nachfolgerin, Erbin seines Reichtums, seines Könnens -, durchschoss sie wie ein jähes Bildgewitter. Und plötzlich schien es vollkommen klar, weshalb Faunia sie so hasste und welche Bedrohung sie in ihr sah.
»Wie gesagt«, fuhr Jagu langsam fort, »Osiril will, dass du dich fortan um sie kümmerst. Das bedeutet bei ihr sehr viel.«
Sie versuchte zu schlucken, damit ihre Stimme nicht zu sehr schwankte, aber ihr Mund war viel zu trocken. »Vielleicht bedeutet es nur, dass sie Faunia noch weniger mag als mich.«
»Oh, davon gehe ich aus. Sie hassen sich.« Jagu lächelte
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