Rabenmond - Der magische Bund
Lampe angezündet worden sein.
Sie richtete sich auf, zögerte einen Moment - dann zog sie sich eine Tunika über das Nachthemd, schlüpfte in ihre Schuhe und öffnete die Zimmertür.
Der Flur lag in samtiger Nacht. Doch da, kaum auszumachende Helligkeit kroch die Treppe herauf. Mion blieb im Türrahmen stehen. Schritte waren auf den Stufen zu hören. Und dann erschien eine große Gestalt, die Schultern gesenkt und ein dickes Schaltuch um den Hals geworfen. Mit langsamen Schritten ging Jagu den Flur hinunter.
Mion trat aus ihrem Zimmer und öffnete den Mund; doch bevor sie etwas sagen konnte, schwang am Ende des Flurs eine Tür auf und Faunia stolperte in das Licht seiner Lampe. Automatisch wich Mion zurück, obwohl man sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte.
»Jagu...« Faunia brachte kaum mehr als ein Flüstern zustande. Sie schluckte. Mion fiel auf, dass sie ein Kleid und funkelnde Ohrringe trug. Das Haar war aufgesteckt, offenbar hatte sie noch nicht geschlafen. »Wo warst du?«
Jagu ging an ihr vorüber, ohne Antwort zu geben. Faunia lief ihm hinterher. Ihre Hand glitt in die Tasche ihres Kleides und zog etwas Kleines, Weißes hervor. Mion spürte, wie es ihr die Kehle zuschnürte: Es sah aus wie ein Stück Kreide. »Ich habe gedacht, wir könnten endlich wieder -«
»Verschwinde.«
Mion zuckte zusammen, als hätte der ruppige Befehl ihr und nicht Faunia gegolten. Auch Faunia hielt erschrocken inne. Mit hochgezogenen Schultern stand sie da, bis Jagu am Ende des Flurs verschwand und die Finsternis sie schluckte.
Mion zog sich in ihr Zimmer zurück und schloss lautlos die Tür.
Verwirrt ließ sie sich auf die Bettkante sinken. Hatte sie wirklich ein Kreidestück in Faunias Hand gesehen? Sie erinnerte sich an die weißen Markierungen auf dem Fußboden, die sie in Jagus Schlafzimmer entdeckt hatte... Bildete sie sich die Zusammenhänge nur ein? Wieso - worauf - hatte Faunia heute Nacht so lange gewartet? Und aus welchem Grund war Jagu so unfreundlich gewesen?
Seufzend ließ sie sich auf den Rücken fallen. Je mehr sie über Faunia, Jagu und ihr neues Zuhause erfuhr, umso geheimnisvoller schien alles zu werden.
Als Mion zum Frühstück erschien, saßen nur die Köchin, das Dienstmädchen und Morizius am Tisch. Enttäuscht verlangsamte sie ihren Schritt und blieb vor ihrem Stuhl stehen.
»Wo ist der Meister?«, fragte sie.
Morizius warf ihr einen säuerlichen Blick zu, als wäre es schon eine Frechheit, ihn überhaupt anzusprechen. Die Köchin öffnete ihr gekochtes Ei, ohne den Blick zu heben.
Mion setzte sich hin. »Also? Hat er schon gegessen?« »Nein«, sagte die Köchin geduldig. Und mehr sagte sie nicht. Wartend beobachtete Mion die Anwesenden.
»Was ist denn los?! Jetzt sagt mir schon, wo Jagu ist, verdammt!«
»Hüte deine Zunge!«, bellte Morizius. Mion rollte die Augen. Den Satz loszuwerden, darauf hatte er bestimmt monatelang gewartet. »Diese Gossensprache dulde ich nicht! Auf dein Zimmer! Ich verlange, dass dieses vorlaute Gör den Tisch verlässt!«
»Wo ist er?«, fragte Mion ruhig und sah die Köchin an. Sie wusste, dass die Köchin ihr diesmal antworten würde - allein um Morizius’ Autorität zu untergraben.
»Der Herr kommt und geht, wie ihm beliebt«, erwiderte sie und widmete sich mit einem langen Atemzug wieder ihrem Teller.
Nachdenklich nahm Mion sich ein gekochtes Ei und schälte es. Auch Faunia fehlte. Nach einer Weile fragte sie nach ihr.
»Jedenfalls hat sie heute noch nicht gebadet«, war alles, was die Köchin dazu sagte.
Mion beschloss, zum Atelier zu gehen. Vielleicht, dachte sie grimmig, hatte Jagu ja über all seiner Arbeit vergessen, dass es eine neue Schülerin gab, die bis jetzt in ihrem Zimmer gehockt hatte wie ein Besen in seinem Schrank.
Als sie die Türklinke herunterdrückte, war das Atelier verschlossen. Verwundert starrte sie das Holz an. Es war nie abgeschlossen gewesen. Forsch klopfte sie an.
»Jagu? Seid Ihr da?«
Hinter der Tür blieb alles ruhig. Wenn er wirklich im Atelier war, hätte er längst reagiert, oder aber er hatte keine Lust, sie zu sehen. Die Begegnung zwischen Jagu und Faunia letzte Nacht kam ihr in den Sinn, und sie schauderte, als sie an seinen groben Tonfall dachte. Sollte er je mit ihr so sprechen, würde sie im Erdboden versinken vor Schreck und Beschämung.
Seltsam, dachte Mion, als sie zu ihrem Zimmer zurückschlich. Wie konnte die bloße Vorstellung, von Jagu angefahren zu werden, ihr Herz zum Rasen
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