Rabenmond - Der magische Bund
wieder. »Was denkst du über Faunia?«
Mion kaute unsicher auf ihrer Lippe und Jagu las ihre Gedanken: »Keine Sorge, sie kann uns nicht belauschen - ich habe sie ins Atelier geschickt. Du scheinst sie ja schon recht gut kennengelernt zu haben!«
»Das kann man nicht gerade sagen. Ich habe die ganze Zeit bloß Löcher in die Luft gestarrt. Wo wart Ihr? Ich dachte, Ihr wollt mir was beibringen!«
Jagu sah sie aufmerksam an. »Um deine Ausbildung musst du nicht bangen. Ich werde dir viel beibringen.«
»Wann?«, fragte sie ungeduldig.
»Was möchtest du denn zuerst lernen?«
Mion sah ihn hilflos an. »Ihr seid doch der Meister! Woher zum Henker soll ich denn...«
»Also schön.« Er beugte sich vor, legte die Pfeife beiseite und faltete die Hände. »Fangen wir an: deine Sprache. Heute bei Osiril hast du mich zum zweiten Mal mit deinem Gespür dafür überrascht, die richtigen Worte zu finden. Du besitzt ein äußerstes Geschick dafür, passende Antworten im rechten Moment zu finden und Leuten zu gefallen. Aber dann wieder...« Er schüttelte leicht den Kopf und Mion fühlte sich schrecklich dabei. »Es gibt bestimmte Worte, die du einfach nicht mehr benutzen darfst. In solchen Augenblicken wie heute, als du mit Osiril gesprochen hast, klingst du perfekt. Du musst diesen Instinkt oder was auch immer es ist zur Gewohnheit machen. Du bist ab jetzt kein Ruinenmädchen mehr. Du bist die Schülerin eines Künstlers. Du trägst die Kleider einer Dame. Du bist jetzt ein Teil dieser Welt, kein Fremdling mehr. Auch deine Sprache sollte sich anpassen.«
Sie furchte die Stirn. »Was sage ich denn Falsches? Ihr habt mich noch kein einziges Mal fluchen gehört -«
»Und das soll auch nie vorkommen«, unterbrach er sie. »Ich meine dein Vokabular, deinen Ton, alles. Erst einmal bist du zu laut.«
»Zu laut ?« Sie sah ihn verständnislos an. Vieles hatte man ihr schon vorgeworfen, aber nie, zu laut zu sein. Bis jetzt war ihr nicht einmal in den Sinn gekommen, dass das überhaupt etwas Schlechtes sein könnte.
»Du redest, als würdest du auf einem Markt feilschen«, erläuterte er gelassen. »Aber wir sind hier in einem hübschen, stillen Salon. Du kannst fast den Schnee draußen fallen hören. Lass deine Worte nicht lauter sein... nicht lauter als fallende Schneeflocken.«
»Fallende Schneeflocken. Aha.« Mion verfluchte sich dafür, rot zu werden, und verschränkte die Arme. »Ich bin nicht lauter als Ihr, Meister.«
Jagu nickte. »Das mag sein. Aber ich bin auch keine Schülerin. Es gibt gewisse Unterschiede. Ein wenig Schüchternheit - natürlich gespielte, keine echte - würde dir gut stehen. Man muss nicht immer zeigen, wie man in Wahrheit ist. Kleider verhüllen den Körper, Worte den Charakter.«
Eine Weile dachte sie nach. Obwohl sie verstand, was er meinte, kam sie nicht dahinter, wieso er mit ihr darüber sprach. »Aber Ihr wisst, wer ich in Wahrheit bin. Warum soll ich mich da verstellen?«
»Nicht vor mir sollst du dich verstellen. Vor den anderen. Vor denen, die du noch kennenlernen wirst... Du kannst nicht lesen, oder?«
»Lesen?« Sie schüttelte den Kopf, verwirrt darüber, wie er plötzlich darauf kam. »Es ist verboten, in den Ruinen zu lesen.«
»Ja, stimmt, das Leseverbot... aber jetzt bist du ja kein Ruinenbewohner mehr. Als Gildenmitglied von Wynter darfst du lesen und das wirst du auch. Und dann versuch, so zu sprechen, als wäre jeder Satz, den du von dir gibst, aus einem Buch.«
Das Ganze kam Mion immer merkwürdiger vor. »Von welchen ›anderen‹, die ich kennenlernen soll, sprecht Ihr? Warum muss ich lesen können? Ich versteh nicht, was das alles mit Kunst zu tun haben soll!«
»Sehr viel.« Jagu beugte sich zu ihr vor wie zu einem Kind, dem man etwas sehr Einfaches langsam erklären muss. »Du wirst mehr über Kunst lernen als jeder andere Lehrling in ganz Wynter, Mion. Schönheit und die Macht der Gefühle, das ist Kunst. Du wirst die Kunst verkörpern. Du wirst die Geheimnisse des Schönen ergründen und das Spiel der Gefühle beherrschen. Du wirst in die Herzen der Menschen blicken und das verstehen, was nicht in Worte zu fassen ist. Du wirst wissen, und dieses Wissen wird dich mächtig genug machen, um die beste Künstlerin zu werden, die Wynter je gesehen hat.« Das Grau seiner Augen war schimmerndes Silber, sein Blick leuchtete, als sähe er viel mehr als nur Mion vor sich, die mit leicht geöffnetem Mund zurückstarrte. Er hob die Augenbrauen und wurde wieder sachlich.
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