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Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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bringen?
    Griesgrämig verpasste sie der Wand einen Tritt, schlug ihre Zimmertür zu und ließ sich aufs Bett fallen. Für einen Augenblick konnte sie nur allzu gut verstehen, warum die Hausbewohner so verdrießlich geworden waren.
    Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ließ den Blick von einem Ende des Bettvorhangs zum anderen schweifen. Das war mittlerweile eine Beschäftigung geworden, der sie sich täglich mehrere Stunden widmete.
    Auf jeden Fall war etwas zwischen Jagu und Faunia vorgefallen, und vielleicht war das auch der Grund, wieso er so lange fort gewesen war. Mion wälzte sich herum und stieß ein Seufzen aus. Sie hatte es satt, immer dieselben Gedanken zu wiederholen. Sie hatte es satt, ihre eigene Stimme im Kopf zu hören! Sie brauchte endlich eine Beschäftigung. Diese entsetzliche Langweile trieb sie noch in den Wahnsinn... all die schönen Kleider und das gute Essen verhöhnten sie geradezu.
    Eine Vorstellung streifte sie, mehr Tagtraum als Idee, während sie die Spitze ihrer Ärmel befühlte. Mit all den kostbaren Dingen könnte sie zu ihrer Familie zurückkehren und ihnen ein neues, sorgenfreies Leben fernab der Ruinen bieten... Sie sah sich in einem kleinen Haus in Wynter wohnen, mit Fenstern, die Vorhänge hatten, und mit einem großen Kamin in der Stube - der Duft von frischem Brot würde in der Luft hängen -, bequemen Betten und richtigen Federkissen. Aber noch während Mion es sich vorstellte, wusste sie, dass das glückliche Bild trügerisch war. Was würde ihr Vater sagen, wenn sie ganz plötzlich von den Toten auferstand, die Arme voller Kostbarkeiten? Er würde glauben, sie hätte alles gestohlen - was ja stimmen würde -, und die Sachen nicht annehmen.
    »Ein schlechter Mensch, das bist du«, hatte er oft zu ihr gesagt, und das war noch vor jenem unglückseligen Morgen gewesen, als sie den Drachen erschossen hatte. »Ein Herz voll Tücke und böser Streiche, aber Rücksicht auf andere, das ist dir fremd!«
    Wahrscheinlich hatte ihr Vater sogar recht. Sie konnte nicht behaupten, je das Wohl ihrer Familie über ihr eigenes gestellt zu haben. Selbst jetzt zog sie es vor, ihre Eltern und Mirim im Glauben zu lassen, sie sei tot, obwohl ihr Leben durch ihren Verlust bestimmt schwerer geworden war. Mion konnte selbst nicht genau sagen, warum sie es tat. Natürlich hatte sie ein schlechtes Gewissen, aber es fiel ihr nicht schwer, es zu verdrängen. Die Last, an Armut und Hoffnungslosigkeit gebunden zu sein, wog schwerer als die Schuld. Wenn sie ganz ehrlich mit sich war, hatte sie nicht die geringste Lust, zurückzukehren. Sie gehörte nun nach Wynter.
    Eigentlich wusste sie fast gar nichts über die Stadt. War das nicht verrückt? Sie wohnte nun schon fast zwei Wochen hier, und alles, was sie gesehen hatte, waren die dunklen Straßen in jener Nacht gewesen, als sie mit Jagu angekommen war. Sie hatte das Haus seitdem nicht verlassen.
    Mion stand auf und lehnte sich gegen eines der Fenster. Ihr Atem beschlug das Glas und der Garten unter ihr verschwamm hinter einer Nebelschicht. So fühlte sie sich auch: hinter einer Nebelschicht. In den Ruinen hatte sie mehr von Wynter zu sehen bekommen als jetzt. Vielleicht sollte sie einen Spaziergang unternehmen. Ja, das war eine gute Idee. Niemand würde sie davon abhalten; das war der Vorteil daran, dass sich keiner um sie scherte.
    Sie ging zu ihrer Kleidertruhe und prüfte die Stücke, die Faunia ihr vor ein paar Tagen wortlos vor der Tür hinterlassen hatte. Sie nahm ein dunkelblaues Überkleid aus Samt und einen schwarzen, etwas abgetragenen Wollumhang heraus. Ein leichtes Stechen durchfuhr sie, als ihr bewusst wurde, wie selbstverständlich all das schon für sie geworden war. Vor ein paar Tagen hätte sie die Silberknöpfe noch angestarrt wie ein hungriges Kind einen Apfelkorb.
    Stiefel hatte sie nicht, nur die Samtpantoffeln. Dann würde sie eben aufpassen, nicht in zu tiefen Schnee zu steigen. Als sie fertig angezogen war, warf sie einen Blick in den Spiegel. Das war inzwischen auch eine Angewohnheit geworden: Sie hatte ihr Gesicht in langsam verstreichenden Stunden eingehend studiert, Grimassen gezogen, sich angelächelt und die Stirn gerunzelt. Ihr eigenes Verhalten erinnerte sie schon so sehr daran, wie sie sich Faunia in ihrem Zimmer vorstellte, dass sie sich mit einem raschen Augenrollen von ihrem Spiegelbild abwandte.
    Beschwingten Schrittes lief sie die Stufen der Spiraltreppe hinab, die ins Zimmer mit dem großen Kronleuchter und

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