Rabenmond - Der magische Bund
»Aber zuerst musst du lesen lernen.«
Ausgestoßen
A us dem Nichts stürzte sich der weiße Tiger auf Lyrian.
Korpus Schwalbe! Das mächtige Tigergebiss schnappte in die Luft. Er hörte das Krachen der Zähne, die aufeinanderschlugen, dann fegte die Schwalbe unter dem Tiger hindurch und schoss steil in die Höhe. Im Rausch des Fluges verzerrten sich die erstaunten Ausrufe ringsum.
Von massiven Marmortürmen umschlossen, bildeten die Turnierplätze das Herz des Palasts. Der Grund war mit schwarzem Stein ausgelegt, doch je nach Gestaltenwahl konnten die antretenden Drachen bis hinauf in den winterlichen Himmel fliegen. Die Schiedsrichter - Drachen, die schon zu alt waren, um selbst anzutreten - konnten ihnen in Gestalt von Spatzen überallhin folgen, und die Zuschauer, die sich auf den zahlreichen Balkonen tummelten, besaßen gute Ferngläser. Vor allem jetzt, da der Prinz antrat, war jeder Platz besetzt.
Der Tiger war inzwischen verschwunden. Stattdessen nahm ein schneidiger Sturmfalke die Verfolgung auf und holte die Schwalbe ein. Lyrian drehte ab und rief die Füchse herbei. Für eine Sekunde vergaß er, die Flügel zu behalten - dann hatte er sich gefangen. Gerade rechtzeitig. Erbarmungslos schoss der Sturmfalke auf ihn zu und bohrte ihm seinen Schnabel in den Nacken. Kämpfend stürzten sie in die Tiefe. Noch im Fall spürte Lyrian, wie der Schnabel des Falken verschwand. Messerscharfe Tigerfänge gruben sich ins Fuchsfell.
Die großen Kampfturniere der Drachen fanden alljährlich nach der Wintersonnenwende statt und bestimmten die strenge Rangordnung der herrschenden Klasse. Hier wurden Talent und Können bewiesen, wurde die Gunst der Mächtigen gewonnen und das Schicksal von Familien bestimmt. Offiziell fanden die Turniere natürlich nur noch statt, um einer alten Tradition zu huldigen - die Sportkämpfe wurden wie Feste gefeiert, nicht wie politische Ereignisse. Doch unter der Oberfläche waren die Turniere noch so bedeutend wie eh und je. Dass die engsten und einflussreichsten Berater der Kaiserfamilie zumeist auch die Sieger der Turnierkämpfe waren, verstand sich von selbst.
Auch die Kaiserin hatte sich zu ihrer Zeit gegen mehr als vierhundert Drachen in den Turnieren behauptet - es war kein Geheimnis, dass ihr bewundernswertes Talent und ihr großes Kampfgeschick zu der Vermählung mit dem Kaiser geführt hatten. Nur die mächtigsten Drachen heirateten in die Kaiserfamilie ein. Es galt im echten Leben wie in den Spielen das Gesetz des Stärkeren.
Die Turniere wurden in Altersgruppen unterteilt, wobei die jüngsten Teilnehmer sechzehn sein mussten. Für die Drachen, die zum ersten Mal das Ritual der Wintersonnenwende erlebt hatten, gab es Juniorenkämpfe, die von den älteren Drachen belächelt und von den Eltern nervös verfolgt wurden. Auch wenn die Jungdrachen nur zwei Wochen Zeit gehabt hatten, um sich mit ihren neuen Kräften vertraut zu machen, war es ein Kampf um Ruhm und Ehre, auf Leben oder Tod.
Inzwischen verursachte der Biss des Tigers glühenden Schmerz. Lyrian blieb nichts anderes übrig, als sich zurück in die Schwalbe zu verwandeln, um den Fängen zu entgehen. Ein zweites Mal entkam er dem Tiger und floh in die Höhe. Gleich darauf rief er wieder den Fuchs und warf sich von oben auf den geflügelten Tiger. Er bekam ihn an der Kehle zu packen.
Sein Gegner wechselte augenblicklich die Gestalt. Ehe Lyrian sichs versah, wand sich eine schwarze Wasserschlange um seinen Leib. Er konnte nicht mehr mit den Flügeln schlagen. Der Erdboden kam mit rasender Geschwindigkeit näher.
Im letzten Augenblick bremste sein Gegner ihren Fall ab. Der Fuchs prallte hart mit dem Rücken auf. Schlange und Falkenflügel verschwanden, stattdessen drückten ihn mächtige Tigerpranken zu Boden.
Es wurde gekämpft, bis ein Korpus tot war oder ein Kämpfer sich ergab. Lyrian entschied, dass dies ein guter Zeitpunkt zum Aufgeben war. Er leistete keinen Widerstand mehr und nahm die Gestalt seines schwächsten Tieres an, des Otters, als Zeichen dafür, dass der Kampf beendet war.
Der Tiger wich zurück. In sicherem Abstand wechselte er in ein Mädchen mit wilden honigfarbenen Locken. Anmutig verneigte sie sich, wobei Lyrian sehen konnte, dass sie im Eifer des Gefechts noch immer den Tigerschwanz und Ansätze der Falkenflügel trug.
Er nahm menschliche Gestalt an. Spuren von Fuchs- und Schwalbenkorpus blieben auch ihm und er verbeugte sich höflich vor seiner Gegnerin. Von den Zuschauerbalkonen erscholl
Weitere Kostenlose Bücher