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Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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richtete sich auf. »Das ist alles? Mehr Schlaf und dann vergesse ich das Ritual?«
    Die Ärzte sahen ausdruckslos an ihm vorbei. Am liebsten hätte er geschrien, sie sollten ihm in die Augen sehen. Oder hätte ihnen offen gesagt, was beim Ritual geschah. Die ganze hässliche Wahrheit wollte er in ihre leeren Gesichter werfen.
    Wütend und verwirrt stand er auf und lief aus dem Zimmer. Tee! Tee gegen seine Sorgen. Es war geradezu lächerlich.
    Als er den weiten Korridor entlanglief, hörte er Geräusche hinter sich. Die Leibärzte folgten ihm stumm; als er zu ihnen herumfuhr, verbeugten sie sich. »Lasst mich in Ruhe!«
    »Euer Majestät«, murmelte die Frau und hielt ihre Haube fest, damit sie ihr nicht vom gesenkten Kopf rutschte. »Wir müssen Eure Korpusse untersuchen, Majestät, so verlangt es die Vernunft.«
    Lyrian lief weiter, aber die Leibärzte folgten ihm. »Ihr sollt weggehen!«
    Die Ärzte blieben verbeugt stehen, aber sobald er losging, begleitete ihn wieder das Trippeln ihrer Füße. Schließlich rief er die Schwalbe herbei und flog davon. Eine Weile rannten die Leibärzte tatsächlich hinterher - erst als sie in einer großen Halle ankamen, gaben sie auf. Er segelte durch die Fensterbogen, tauchte in die offene, weite Winterwelt und spürte seine Fesseln schwerer denn je.
    Zwei Stunden später, als er in sein Schlafgemach kam, erwarteten ihn die Ärzte. Stumm brachten sie die Untersuchung hinter sich.

Wahres Gesicht
    V on allen Lehrern, die Jagu hätte aussuchen können, war seine Wahl ausgerechnet auf Morizius gefallen. Hätte er doch Faunia mit den Lektionen beauftragt!
    Jeden Vormittag begann Mions Unterricht mit einem leidvollen Seufzen und damit hörte er auch auf. Morizius reagierte nicht viel erfreuter über die Zeit, die er mit ihr verbringen musste, aber im Vergleich zu Mion bemühte er sich nicht, sein Missfallen zu verbergen.
    »Erniedrigend!«, schimpfte er. »Lesen beibringen! Ungebildetes Ruinenpack! Ich bin doch kein Hauslehrer, ich bin - ich bin - Lesen beibringen, einem Ruinenmädchen! Unerhört...«
    Er war ein ungeduldiger und zänkischer Lehrer. Und er befeuchtete die Finger, bevor er die Seiten umblätterte. Vielleicht hatte Jagu ihn ja genau deshalb ausgesucht, damit Mion sich besonders beeilte - sie wollte so schnell wie möglich lesen können und dann nie wieder Morizius’ Müffelatem riechen.
    Die Bücher für ihren Unterricht suchte Jagu aus. Eines davon war ein dicker Wälzer voller langer, unverständlicher Gedichte und Balladen, die vornehmlich aus Wörtern bestanden, die Mion noch nie gehört hatte. Selbst wenn Morizius das schwierige Vokabular übersetzte, blieb ihr meist der Sinn der Gedichte verschlüsselt. Aber sie hatte ein gutes Gedächtnis und konnte die meisten Zeilen problemlos aufsagen, wenn Morizius sie auf die Probe stellte. Und das tat er oft.
    »Wie fängt das Gedicht Mein Abendlicht an?«
    »Flücht her in diese helle Runde, o Jenah, Kind der Mitternacht.«
    »Wer ist Jenah?«
    »Keine Ahnung... die Frau von dem Kerl, der das geschrieben hat.«
    »Falsch! Erst einmal heißt das nicht ›keine Ahnung‹, sondern ›Ich weiß nicht, verzeiht.‹ Und der ›Kerl‹ ist der Erzähler! Und Jenah ist die geliebte, zum Tode verurteilte Heldin des Gedichts!«
    »Ja, meinetwegen.«
    »Murmle nicht so!«
    »In Ordnung!«
    »Schrei nicht so oder bist du eine Marktfrau! Wie endet das Gedicht?«
    Ein anderes Buch, das Mion lesen musste, war eine Sammlung von Fabeln. Jede Geschichte beinhaltete eine kleine Weisheit oder ein Sprichwort, die Morizius sie aufschreiben und auswendig lernen ließ.
    Hast nichts Gutes du zu sagen, sollst du lieber Schweigen wahren.
    Ein schüchternes Lächeln ist schmeichelhafter als viel Gerede.
    Mit guten Manieren wird man sich nie blamieren.
    Das Alter verdient höchsten Respekt.
    Und viele weitere Sprüche, die Mion schon bald im Schlaf wiederholen konnte.
    Als ihr Lesen flüssiger wurde, nahmen sie sich ein drittes Buch vor. In schmerzhaft kleiner Schrift wurden die Traditionen und Gebote der Drachen erläutert. Der Text war so undurchschaubar und verworren wie ein garstiger Fichtenwald und genauso trocken. Mion quälte sich damit noch mehr als mit den Fabeln und Gedichten. Nur in manchen Augenblicken, wenn etwas ihr Interesse wecken konnte - zum Beispiel, dass ein Bürger von Wynter nicht mehr als eine bestimmte Summe Geld besitzen durfte (dreißigtausend Dukaten, ein wahres Vermögen) oder dass die Leibärzte der Drachen Menschen

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