Rabenmond - Der magische Bund
waren, die im Palast leben durften -, dann erschien ihr der Unterricht beinahe sinnvoll.
Abgesehen von ihren Lesestunden hatte Mion sich noch um etwas ganz anderes zu kümmern, nämlich die Pflege von Osiril, Jagus alter Meisterin. Diese Aufgabe stellte sich als schwieriger heraus als angenommen und zehrte fast so sehr an ihrer Geduld wie die Lektionen bei Morizius.
Egal wie viele Märchen sie noch auswendig lernen würde, in ihren Augen verdienten alte Menschen überhaupt keinen Respekt.
Wenn Osiril nichts an dem Essen zu bemängeln hatte, das Mion ihr zu den unterschiedlichsten Tages- und Nachtzeiten bringen musste, klagte sie über das Wetter, ihre Knochen, die Kissen oder das Leben allgemein. Einmal weigerte sie sich, einen Becher anzunehmen, bloß weil Mion Tintenkleckse an den Fingern hatte.
»Dein Dreck infiziert mich!«, bellte sie. Ein anderes Mal taxierte sie Mion von oben bis unten mit scharfem Blick und fragte: »Was putzt du dich so heraus, heh? Bist du nun ein Lehrling oder eine kleine Prinzessin? Pah, und du sollst eine Künstlerin sein, lächerlich, lächerlich! Künstler leben für die Kunst, nichts anderes. So etwas Banales wie Reinlichkeit spielt für sie keine Rolle.«
Osiril machte es einem leicht, sie zu verabscheuen. Aber Mion hütete sich, in Faunias Fußstapfen zu treten und auf die Sticheleien der Alten einzugehen. Gewissenhaft überging sie Beschimpfungen und Beleidigungen und behandelte Osiril mit beständiger Sorgfalt. So gewöhnte sie sich ihr »Osiril-Lächeln« an, ein leichter Mundwinkelkrampf, der sich einstellte, sobald sie die schmale Treppe zum Zimmer der Meisterin erklomm. Osiril schien es tatsächlich für ein Zeichen guter Laune zu halten, wohl weil sie es als eine Ehre betrachtete, dass man sie bedienen durfte.
Mion ließ sie in diesem Glauben. Sie sprach Osiril nur mit »Herrin« an, sagte höflich »Danke« und »Bitte« und achtete darauf, Morizius’ Sprechregeln einzuhalten: Jedes Wort, das ihr normal vorkam, wurde einfach durch ein lächerlich blumiges ersetzt. Zu ihrer großen Freude hatte Osiril viel für Sprichwörter übrig und schien Gefallen daran zu finden, dass Mion zu jeder Gelegenheit das passende herausplapperte wie ein Papagei.
Dass Osiril eine Quelle an Informationen war, hatte sie natürlich von Anfang an bedacht. Schon aus dem Grund bemühte sie sich um ihre Sympathie. In seltenen Augenblicken gelang es ihr, sie mit irgendeinem Spruch so wohlgesinnt zu stimmen, dass die Malerin gesprächig wurde.
»Natürlich erinnere ich mich daran, wie Jagu mein Lehrling wurde, ich bin doch nicht senil!«, murrte Osiril eines Nachmittags, als Mion ihr den dritten Kräutertee mit Butterbiskuit brachte. Mion schichtete das Holz im Kamin so gemächlich wie möglich auf, um Zeit zu schinden, und versuchte zugleich, nicht so langsam zu sein, dass sie Osiril Anlass zu einem Wutanfall gab. »Wann war das, wann war das … ach, zwanzig, nein, neunzehn Jahre ist das her. Neunzehn Jahre! Ich war in der Blüte meiner Karriere. Alle sind sie zu mir gekommen, die größten Drachen der Zeit, alle haben sie sich von mir porträtieren lassen. Meine Bilder hängen noch heute in den Galerien und Sälen des Palasts und dort werden sie noch in hundert Jahren hängen! Die größten Drachen habe ich porträtiert. Die allergrößten, Mitglieder der Kaiserfamilie! Ich war in der Blüte meiner Karriere, die Beste, oh ja... besser als alle Männer, die beste Künstlerin und eine Frau, hah! Wie neidisch sie alle waren, die Männer...«
»Und dann habt Ihr Euch Jagu als Lehrling genommen?«, fragte Mion vorsichtig.
Osiril erwachte halb verärgert aus ihren Tagträumen. »Ich hätte eigene Kinder haben können, bei allen Drachen, das hätte ich! Heiratsanträge, dass mir der Kopf schwindelte, selbst als ich doppelt so alt war wie andere Bräute! Weil ich so talentiert war, deshalb haben sie mich geliebt. Ein Ausnahmetalent, die größte Künstlerin der Malergilde... bewundert und beneidet. Allen habe ich den Kopf verdreht. Heiratsanträge, dass einem schwindelig werden konnte.« Ein Hustenanfall unterbrach Osiril, und Mion ergriff das Wort, während sie wieder zu Atem kam: »Ihr wart sehr mutig, einen Fremden als Lehrling zu wählen, Herrin. Ich frage mich, woher Ihr die Zuversicht genommen habt, einen solchen Schritt zu wagen.«
»In der Tat... es war ein mutiger Schritt. Keiner hat vor mir gewagt, die Tradition zu brechen, bei allen Drachen, schon gar keine Frau in der Malergilde!
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