Rabenmond - Der magische Bund
Schreck in ihrem verzerrten Gesicht hatte nicht der Tat gegolten, die sie beging. Auch später hatte sie kein Entsetzen über den Vorfall gezeigt. Wie viel leichter wäre sein Leben, wenn er so bedenkenlos sein könnte wie sie... In ihrer Unwissenheit war sie frei von Schuld, während er von seinen Vergehen erdrückt wurde.
Das Leben spielt mir einen Streich, dachte Lyrian. Ich habe meine Heimat verlassen, weil ich für sie morden musste, und heute hat meine Freiheit dasselbe von mir verlangt.
Er war eingeschlafen, ohne es zu merken. Als er blinzelnd die Augen öffnete, war Baltibb fort.
Sonnenstrahlen fädelten sich durch das Dach aus Ranken und füllten die alten Reliefs, die den Steinbogen bedeckten. Es musste schon Mittag sein.
»Baltibb?« Lyrian räusperte sich, seine Stimme war dünn. Baltibb saß an eine Fichte gelehnt in der Sonne und spielte mit Mond, indem sie Tannenzapfen und Stöcke warf. Als sie Lyrian sah, schluckte sie hastig das Brot hinunter, an dem sie geknabbert hatte, und machte Anstalten aufzustehen. Er gab ihr zu verstehen, dass sie sitzen bleiben konnte.
»Wollt Ihr essen? Wir haben Fladenbrot und auch Trockenfleisch und seht - ein ganzer Sack voll Nüsse!« Sie lächelte unsicher. Lyrian war hungrig, aber den Proviant der Räuber mochte er nicht anrühren.
»Wie lange bist du schon wach?«
»Seit ein paar Stunden.«
»Wieso hast du mich nicht geweckt?«
Baltibb schien bei seinem unfreundlichen Ton zusammenzuschrumpfen. »Ihr seid doch erst so spät eingeschlafen … ich dachte, ich lasse Euch ausschlafen.«
Lyrian drückte sich die Handballen auf die geschwollenen Augen und verschränkte dann die Arme. Er konnte Baltibb schlecht vorwerfen, dass sie sich um ihn sorgte, und doch reizte es ihn.
»Komm«, murmelte er. »Je schneller wir diesen Ort verlassen, umso besser.«
Sie machten sich schweigend auf den Weg. Überall zwitscherten Vögel, und auch wenn das Sonnenlicht nicht richtig wärmte, waren die goldenen Fächer zwischen den Bäumen ein wohltuender Anblick.
Sie hielten sich von weiteren Ruinen fern, die immer wieder auftauchten, schlummernd in der engen Umarmung der Wildnis. Nachmittags ertrug Lyrian den Hunger nicht mehr und aß Baltibbs Brot. Inzwischen hatte sein Schweigen ihr eine zarte Sorgenfalte auf die Stirn gezeichnet, und sie beobachtete ihn nachdenklich, während sie aßen. Als er fertig war und weiterwollte, hielt Baltibb ihn überraschend zurück: Sie griff in ihren Beutel und zog eine Holzflöte hervor.
»Die habe ich gestern in den Ruinen gefunden. Ich dachte, wenn alte Musikinstrumente Euch interessieren...«
Erstaunt nahm Lyrian die Flöte entgegen und musterte sie. Versuchsweise blies er hinein und ein schiefer Ton echote durch den Wald. Sie schien zu funktionieren.
»Ach, Tibb... danke dir.«
Sie lächelte flüchtig, doch als er aufstand, sagte sie: »Lyrian? Was ist bei der Wintersonnenwende passiert?«
Ein heißer Stich regte sich irgendwo in ihm, aber nur noch sehr schwach, wie eine Nadel, die schon zu oft in dieselbe Stelle gestochen hatte.
»Seit der Wintersonnenwende habt Ihr Euch verändert... Ihr habt mir nie gesagt, was geschehen ist.«
Er drehte die Flöte in der Hand, ohne zu antworten. Sie schien auch keine Erklärung zu erwarten; mit gesenkten Augen erhob sie sich und schulterte den Beutel. »Ich weiß, dass es anmaßend ist, Euch so etwas zu fragen. Aber -«
Lyrian berührte ihre Schulter, und ohne darüber nachzudenken, schloss er sie in die Arme. Wie gut es tat, ihr so nahe zu sein. Das letzte Mal, dass er jemanden so gehalten hatte, musste Jahre zurückliegen... als er klein gewesen war, im Bett der Kaiserin... Er spürte, wie Baltibb die Umarmung zaghaft erwiderte und den Atem anhielt.
Er seufzte schwer. Er war so froh, dass Baltibb sich um ihn Gedanken machte, auch wenn gerade das ihm manchmal am meisten wehtat. »Ich werde es dir verraten, wenn wir am Ziel unserer Reise angekommen sind. Wenn wir Wynter endgültig verlassen, dann will ich alles sagen und im selben Moment für immer vergessen.«
Baltibb nickte stumm. Sie hielten sich fest, traurig und froh, einsam und zusammen, im Zwielicht der alten Wälder.
Abends fanden sie eine kleine Steinruine, die vor langer Zeit einmal eine Hütte gewesen sein musste. Das Dach war halb eingestürzt und bildete ein schmales, dreieckiges Schlupfloch, das Baltibb und Lyrian mit Tannenzweigen auslegten.
Die Nacht war stockfinster. Er verwandelte sich in den Fuchs und Baltibb schmiegte
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