Rabenmond - Der magische Bund
eingezeichnet. Doch schließlich musste das nichts heißen.
»Wir sind weiter nach Westen abgekommen, als ich dachte«, murmelte er und fuhr ihre Route mit dem Finger nach. »Nun müssen wir an der Grenze zu Libéa entlang.
Damit vermeiden wir Kossum, wo Krieg ist. Und dann kommen wir nach Whalentida.«
Baltibb hörte ihm schweigend zu. Es war wahrscheinlich das erste Mal, dass sie all die Namen hörte; kaum vorstellbar, wie verwirrend das Ganze für sie klingen musste. Selbst er war unsicher, obwohl er sein ganzes Leben über die Verhältnisse der Länder unterrichtet worden war.
Dann erschienen die Mitternachtsberge am Horizont. Von Tag zu Tag traten die spitzen Umrisse deutlicher hervor und wuchsen am wässrigen Himmel empor, bis Baltibb und Lyrian ihnen unmittelbar gegenüberstanden. Bedrohlich beugten die Felsgiganten sich zu ihnen herab, wie Wächter jener fremden Welt, die in ihren Schatten lag. Hinter die Gebirge, das wusste Lyrian, reichte die Macht Wynters kaum mehr.
Sie folgten weiter dem Wasser, das sich mal durch schmale Felspässe zwängte, mal mit anderen Strömen vereinte und als reißende Flut durch Täler spülte. Hätte Lyrian nicht die Korpusse der Schwalben gehabt, hätte ihr Weg an so mancher Schlucht oder unüberwindbaren Klippe geendet.
Die Nächte in den Gebirgen waren schwarz und unheimlich. Es gab kein Zeichen von Leben, nur der Wind heulte in den Falten des Gesteins, wimmerte und tobte und sang wehmütige Todeslieder. Die Mitternachtsberge hatten ihren Namen von einer alten Legende bekommen, die besagte, dass sie sich zur Geisterstunde in Bewegung setzten und Wanderer in die Irre führten. Wenn Lyrian in der Dunkelheit das Mahlen von Stein hörte und das markerschütternde Poltern ferner Felslawinen, glaubte er daran.
Endlich wurden die Berge zahmer, der Horizont kam wieder zwischen den Gipfeln in Sicht und ihr Fußweg wurde leichter. Auch die Kälte nahm ab. Der Schnee wich dünnen Moosteppichen und Wiesen. Lyrian und Baltibb übernachteten in zerfallenen Hütten, auf deren schiefen Dächern Maiglöckchen und Butterblumen blühten, und durchwanderten verlassene Dörfer, halb ertrunken in der Erde. Lyrian mochte das Land hier. Morgens erwachten sie vom kühlen Duft des Taus, abends hauchten die Frühlingsblumen ihre traurige Süße in die Dämmerung. Ihm war, als wäre Wynter mit dem Schnee endgültig hinter ihnen geblieben.
Als der Essensvorrat zur Neige ging, den sie aus verschiedenen Dörfern in Jegäa zusammengestohlen hatten, fing Lyrian in Gestalt der Otter Fische aus dem Fluss oder erlegte als Fuchs Wildhühner. Er gewöhnte sich daran zu jagen und empfand keine Gewissensbisse mehr, was auch an den animalischen Instinkten der Korpusse lag. Es war ein unumstößliches Gesetz der Natur: Man konnte nur überleben, indem man tötete. Oft, wenn er sich damit zu beruhigen versuchte, kehrten seine Gedanken zur Nacht der Wintersonnenwende zurück. Das Entsetzen von damals war nur noch eine verschwommene Erinnerung. Vielleicht war das, was er getan hatte, nicht viel schlimmer als das Erlegen von Fischen und Hühnern... Aber er schob diese Überlegungen absichtlich beiseite.
Auch der Gedanke an die Zukunft bereitete ihm immer mehr Beklemmung. Whalentida war ihr Ziel und danach die unbekannte Ferne - aber er konnte nur einen weiten, schönen Sommer der Unendlichkeit sehen. Er selbst fehlte in dem Bild. Würde er sich in einer Stadt niederlassen und unter Menschen leben, seine wahre Identität geheim haltend? Oder würde er sich irgendwo in der Wildnis verstecken, mit niemandem als Baltibb zur Hilfe? Ein Außenseiter wäre er in jedem Fall, egal wohin er ging... zu den Drachen konnte er nicht gehören, aber zu den Menschen? Wenn sie alle so vernunftwidrig, so grausam waren wie die Ruinenräuber …
Immer wieder versuchte Lyrian, die Sorgen auszublenden.
Er wollte die Vergangenheit vergessen und am liebsten die Zukunft dazu. Wichtig war nur das Jetzt. Die freundliche Landschaft. Das stille Glück, das er empfand, wenn er die Flöte spielte und an nichts dachte.
Eines Morgens erwachten sie in dichtem Nebel. Frost knirschte unter ihren Füßen, als sie ihren Weg fortsetzten. Mond, der inzwischen fast doppelt so groß geworden war, lief voraus und machte Jagd auf Mäuse, seine neue Lieblingsbeschäftigung.
Der Fluss machte eine Kurve und Mond verschwand hinter einem Hügel. Als Lyrian und Baltibb um die Biegung kamen, stand Mond am Ufer und schnüffelte an etwas, was halb aus den
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