Rabenmond - Der magische Bund
auslösen können. Andererseits... hast du bewiesen, dass du eigenständige Entscheidungen treffen kannst. Es mag als Beweis dafür gelten, dass du Kaiser werden kannst.«
»Ich weiß nicht, ob ich Kaiser werden will.« Beinahe erwartete er einen Hieb der Luchspranken oder eine Ohrfeige oder zumindest eine erzürnte Antwort. Doch der Kaiser sah ihn nur an, mit seinem tiefen, nichtssagenden Blick, der, wie Lyrian nun wusste, alles andere als leer war.
»Den Menschen steht es zu, zu wollen, zu begehren, zu hoffen, zu erträumen. Drachen sehen, erobern, verzichten - wir planen und wir denken. Du willst nichts, Sohn. Du wirst.«
»Vielleicht gehe ich nach Whalentida.«
»Kein Drache verlässt Wynter.«
»Du kannst mich nicht zwingen«, sagte Lyrian gepresst.
»Nein... Zwang ist etwas für Menschen. Dein Verstand wird dich aufhalten.« Der Kaiser reckte das Kinn. »Sobald diese Schlacht gewonnen ist, ziehen wir weiter in den Süden Kossums, wo die Geschwisterstaaten Rebellion und Zerstörung gestiftet haben. Du wirst mitkommen. Ich bezwecke, dass du sie kennenlernst, die Freiheit. In ihrer ganzen Pracht. Du wirst in die Menschengesichter blicken, die der weinenden Kinder und die der verzweifelten Alten, und dann sagst du mir noch einmal, ob du sie im Stich lassen und Wynter den Rücken kehren willst, um am Ende der Welt bei den Sklaven zu leben.«
Damit verwandelte er sich in einen Adler und stieg mit mächtigen Flügelschlägen in den raucherfüllten Himmel.
Lyrian wandte sich der Schlacht zu, die vor dem Hintergrund des brennenden Horizonts ihr Ende fand.
Davor konnte er nicht fliehen. Das konnte niemand.
DIE ZWEITE SONNENWENDE
Samt und Federn
Theaternacht
M it einem dramatischen Seufzen hob die schöne Tochter der Ruinenräuber den Dolch und richtete die Klinge an ihren Hals. Zwanzig Banditen, mit furchterregender Kriegsbemalung und voller Waffenausrüstung, sogen scharf die Luft ein.
»Lasst den Gefangenen ziehn oder ich sterbe mit ihm!«
Der Gefangene - ein junger Bürger von Wynter mit eindrucksvoller Lockenpracht - begehrte gegen seine Fesseln auf. »Rafalina, tu es nicht! Mein Leben entschuldigt keine Träne in deinem holden Gesicht. Welch Zauber wendet Tochter gegen Vater, Räuber gegen Räuber, um einen armen Narren zu retten? Oh Rafalina, Allerschönste, wenn wir uns doch nie getroffen hätten!«
Die Räubertochter trat ins seidig blaue Vollmondlicht, das zwischen den winterlichen Hügeln herabstrahlte, und erwiderte mit leiser, klangvoller Stimme: »Wir waren zwei Vögel so frei, ehe wir die Gabe der Menschen entdeckten. Und die Welt sprang entzwei, als uns flammende Blicke aus der Unschuld weckten. Mutter Schicksal liebt die, die verstehen, und hat Nachsicht mit denen, die fühlen, so steht es an den Toren des Drachenpalasts geschrieben. So verlange ich Nachsicht mit zwei armen Menschen, die sich lieben!«
Die Räuber stießen empörte und entsetzte Laute aus. Auch Jagu, der in der zweiten Reihe saß, gab ein Grunzen von sich. Mion warf ihm einen amüsierten Seitenblick zu und dachte dasselbe: Als könnten die Räuber ernsthaft von der Romanze überrascht sein, nachdem es seit zwei Stunden nichts als Schwüre und Schmachterei gegeben hatte.
»Sie ist das größte Unglück und das größte Glück des Menschen«, rief der gelockte Bürgerjüngling voller Rührung aus. »Die Liebe! Sie vereint Sklaven und Wilde, Bürger und Diebe! Die Gabe der Menschen mag alles zerstören, doch ohne die Liebe wär unser Leben verloren.«
»Mit oder ohne - dich wird mein Schwert durchbohren!«, brüllte der Räuberhauptmann.
Ein beeindruckendes Bühnengefecht setzte ein, bei dem jede Menge Tränen, rote Bluttücher und Seufzer fielen. Der Mond ging unter, der Himmel färbte sich rosig und violett im Sonnenaufgang. Dann tat der junge Held neben seiner toten Angebeteten die Erkenntnis kund, dass die Liebe ein Fluch sei, und warf sich der Klinge des Räuberhauptmannes entgegen. Der Vorhang fiel und heftiger Applaus erscholl. Auch Mion klatschte begeistert. Vor allem weil es jetzt zu Ende war.
Mit dem aufgeregten Kribbeln im Bauch, das schon den ganzen Abend andauerte und nur während des zweiten Akts in Schläfrigkeit umgeschlagen war, schielte sie über die Schulter zurück in die dunklen Reihen der Zuschauer. Hier saßen sie: die mächtigsten Mitglieder der Gilden. Die größten Künstler von Wynter. Die reichsten Menschen des Landes … die reichsten Menschen überhaupt, wahrscheinlich. Und sie, Mion, war
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