Rabenmond - Der magische Bund
einen schönen Traum hast du, den Traum eines Narren. Du folgst den Spuren der Sklaven und glaubst, dort Freiheit zu finden! Guck sie dir nur an, die verlorenen Seelen: Das ist alles, was du jenseits der Meere findest.«
Lyrian ballte die Fäuste. Natürlich hatte er im Unterricht gelernt, dass die Menschen von Kossum von den Geschwisterstaaten versklavt wurden. Aber davon zu lesen war etwas anderes, als es tatsächlich zu sehen.
»Was wird jetzt aus den Leuten?«
»Sie werden eine neue Heimat in Wynter finden, wo sie Schutz vor den Geschwisterstaaten und vor sich selbst erhalten. Die Männer werden Fußsoldaten, die Frauen und Kinder kommen in die Obhut der Ruinen. Sie erwartet ein sicheres Leben. Ein gerechtes Leben.«
»Wirklich?«, flüsterte Lyrian.
Der Kaiser wandte ihm das Gesicht zu. »Das Leben unter unserer Führung ist das einzige gerechte Leben, das ein Mensch haben kann.«
»Aber es ist nicht frei. Kann Gerechtigkeit denn Freiheit ausschließen?«
Ein Blitzen lag in den Augen seines Vaters. »Du redest von Freiheit und weißt nicht im Geringsten, was das ist. Sie bedeutet Chaos für die, die nicht damit umgehen können - und wer kann das schon? Selbst wir Drachen brauchen Gebote, damit sie uns nicht in trügerische Fallen lockt. Und die Freiheit der Menschen bedeutet ihre Gefangenschaft.«
Lyrian erwiderte nichts.
»Vielleicht hast du Freiheit mit Verantwortungslosigkeit verwechselt. Vielleicht wolltest du vor deiner Pflicht als Drache fliehen. Vielleicht hattest du Angst zu herrschen. Ist es das? Ist dir das Schicksal dieser Menschen egal, die ohne uns verloren wären?«
»Nein«, sagte Lyrian energisch. »Ich will frei sein von Schuld!«
»Schuld... Wer Verstand hat, trägt die Bürde, Entscheidungen zu treffen. Wer Entscheidungen trifft, macht sich schuldig. Natürlich sind wir es. Wir schaffen Leid, um anderes Leid zu verhindern. Wir können das Schlechte nicht ausmerzen, denn es ist ein Teil der Welt. Wir können lediglich versuchen, das Gleichgewicht von Gut und Böse zu erhalten. Wenn du fliehst, um dich von deiner Schuld zu befreien, begehst du das allerschlimmste Verbrechen, das ein Drache nur begehen kann: Du rettest dich selbst statt deiner Untertanen. Du handelst eigennützig wie ein Mensch.«
Lyrian öffnete den Mund, aber er wusste nicht, was er erwidern sollte. Er wusste, dass er nicht aus Eigennutz geflohen war, wusste, dass die Macht der Drachen auf Lügen basierte, aber er fand keinen Weg, all das in Worte zu fassen. Und jetzt, wo er dem Kaiser nichts entgegenzustellen hatte, geriet sein Glaube ins Wanken. Was sein Vater sagte, ergab schließlich Sinn … Lyrian versuchte, sich das Ritual der Wintersonnenwende in Erinnerung zu rufen - er wusste, dass nichts die Grausamkeit jener Nacht rechtfertigen konnte. Aber woher wusste er das? Mit Logik konnte er es nicht erklären. Sein Verstand sagte ihm, dass vielleicht die Grausamkeit dieser einen Nacht nötig war, um noch viel mehr Leid zu verhindern - das Leid, das die Menschen sich gegenseitig zufügen konnten …
»Du hast nicht nachgedacht, als du geflohen bist«, fuhr der Kaiser eisig fort. »Dein Wissen um die Dinge war gering und doch hieltest du dich allen anderen Drachen überlegen. Nun hast du den Krieg gesehen und weißt, wozu die Menschen fähig sind. Wenn wir sie voreinander retten wollen, müssen wir dafür Opfer bringen.«
Schweigend standen sie nebeneinander und beobachteten die Schlacht. Das Heer von Modos und Ghoroma hatte gegen die Legionen der Drachen, Sphinxe und Darauden keine Chance, und doch kämpften sie bis zum letzten Mann - ein schmerzhafter Beweis für ihre zerstörerische Irrationalität. Mit zusammengebissenen Zähnen sah Lyrian zu, wie die Krieger der Geschwisterstaaten Opfer ihres eigenen Stolzes wurden.
»Man muss die Menschen beherrschen«, murmelte der Kaiser. Lyrian glaubte, Bedauern in seiner Stimme zu hören; es war das erste Mal, dass etwas Persönliches durch die Maske seiner Ausdruckslosigkeit drang. Und für einen Augenblick erahnte Lyrian die Gedanken und Sorgen, die seinen Vater bewegten.
»Wieso habt Ihr nicht früher mit mir über diese Dinge gesprochen«, fragte er kaum hörbar. »Wieso habt Ihr nie...«
»Du bist ein Drache«, unterbrach der Kaiser ihn. »Ein Drache weiß diese Dinge. Du hast sie nur infrage gestellt.« Nachdenklich legte er den Kopf schief. »Mit deiner Flucht hast du eine falsche Entscheidung getroffen. Dein Verschwinden hätte eine Rebellion im Palast
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