Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
Vom Netzwerk:
tanzen. Doch die Luft schwelgte im Geruch des Todes und der Schlachtlärm drang bis hierher. Lyrian wünschte, er müsste die Welt nicht mit den feinen Sinnen seines Korpus wahrnehmen.
    Als sie den Hügel erklommen hatten, sah der Kaiser sich sorgfältig um, ehe er menschliche Gestalt annahm. Lyrian tat es ihm gleich. Dann standen sie sich gegenüber und sahen sich in die Augen. Obwohl der Kaiser kein Monster mehr war, kam er Lyrian unnahbar vor. Der hohe, mit Rubinen und Gold verzierte Kopfschmuck und der imposante schwarze Umhang machten ihn zu einer beeindruckenden Erscheinung, die sich nicht in die Umgebung fügen wollte. Sein hageres, ausdrucksloses Gesicht war eine Maske, die Augen hatten ihre Menschenähnlichkeit längst an das katzenhafte Glänzen des Luchsblickes verloren.
    Mehrere Sekunden maßen sie sich stumm. Lyrian wurde bewusst, dass er gar nicht nach Gedanken in den Augen seines Vaters forschte, sondern vielmehr seine vor ihm zu verschleiern versuchte. Schluckend wandte er sich ab und beobachtete den fernen Kampf. Das Schlachtgewimmel, das das Feld zuvor noch ganzflächig bedeckt hatte, war nun zu kleineren Lachen geschrumpft. Das Land wirkte aus der Ferne wie ein zerrupftes Fell, in dem überall kahle, zerkratzte Stellen sichtbar wurden.
    »Nun erkläre«, hob der Kaiser langsam an, »was dich hergeführt hat. Die Schlacht war es nicht - du bist verschwunden, lange bevor ich entschied herzukommen.«
    »Ich... wollte Wynter verlassen. Ich wollte den Kontinent verlassen.« Er sah den Kaiser an, doch der blickte an ihm vorbei ins verwüstete Land. Vielleicht fiel es ihm deshalb leichter, die Wahrheit zu sagen: »Ich will den Kontinent verlassen. Ich werde nach Whalentida weiterreisen und von dort aus in die Ferne. Und nicht mehr zurückkommen.«
    Der Kaiser blickte noch immer an ihm vorbei. Dann sagte er endlich, als sei nun alles klar: »So.«
    »Ich hatte nicht vor, mich in Euren Kampf einzumischen. Es tut mir leid, wenn Ihr dachtet -«
    »Ich sollte dich töten, Sohn«, sagte der Kaiser sehr langsam und nachdenklich. Als er sich Lyrian zuwandte, wuchsen die Männerhände in den samtigen Falten des Umhangs zu Luchsklauen. »Ich ahne, dass es sinnlos ist, aber ich frage dich trotzdem: wieso?«
    »Ich will Freiheit«, stammelte Lyrian. »Ich will ein Leben frei von Lügen und Sinnlosigkeit.«
    Ein Zucken ging um den schmallippigen Mund des Kaisers; fast hätte man es für ein Lächeln halten können. Spitze Zähne schimmerten hervor. »So.« Er bedeutete Lyrian, ihm zu folgen, und schritt den Hügelkamm entlang. Als sie vor schweren Felsblöcken und Geröll ankamen, verwandelte der Kaiser sich in einen Adler und flog bis zur Spitze. Lyrian blieb mit seinen verwundeten Schwalben nichts übrig, als ihm nachzuklettern. Oben angekommen, erwartete der Kaiser ihn unbeweglich wie eine Statue in seiner natürlichen Gestalt. Der Wind war stärker geworden und zerrte an seinem Umhang. Wortlos zeigte der Kaiser hinab. Eine riesige Menschenmasse war in einem Tal zusammengedrängt - vier- oder fünftausend Männer, Frauen und Kinder. Sphinxe bewachten sie, und ein paar Darauden kreisten in der Luft, um Angreifer - oder Flüchtlinge - rechtzeitig zu erspähen.
    »Das sind Eingeborene Kossums«, erklärte der Kaiser tonlos. »Menschen von kleinem Wuchs, heller Haut und großer Emotionalität. Ihre Fähigkeit zu lieben ist besonders ausgeprägt, dementsprechend gering ist ihr Verstand. Die Geschwisterstaaten haben ihre Dörfer in Brand gesetzt und wollten die Einwohner versklaven. Die kräftigsten von ihnen machen sie zu ihren Soldaten, die schwächeren verschleppen sie nach Whalentida, um sie dort gegen Waffen und Gold einzutauschen. All dies tun die Geschwisterstaaten unter dem Vorwand, die Menschen von Kossum zu schützen - und zwar vor der Tyrannei der Drachen. Es ist so widersinnig, dass man es nicht glauben möchte.« Lyrian sah, wie der Kaiser die Zähne zusammenbiss. Starr beobachtete er die Menschen im Tal. »Hätte ich nicht rechtzeitig Verstärkung hergeschickt, wären all diese armen Kreaturen von ihren eigenen Brüdern verkauft worden. In Whalentida hätte die Hälfte dieser Menschen eine Reise ins Unbekannte erwartet. Sklaven aus Kossum verlassen die Häfen von Whalentida zu Tausenden. Und wohin werden sie geschickt? In jene unbekannten Länder, in die du reisen willst.« Der Kaiser richtete seinen Luchsblick auf ihn. Seine Stimme wurde tief und bedrohlich. »Ein Leben frei von Lügen und Sinnlosigkeit...

Weitere Kostenlose Bücher