Rabenmond - Der magische Bund
sah, und die Körner rieselten ihr aus der Hand.
Lyrian verwandelte sich und saß im Fenster, ein Bein auf dem Sims, das andere draußen. Sonnenlicht flutete an ihm vorbei in den Turm, und Baltibb fiel plötzlich auf, dass es Sommer geworden war.
»Lyrian!«
»Ich kann nicht lange bleiben. Wenn jemand erfährt, dass ich dich getroffen habe, ist dein Leben in Gefahr.«
Sie musste lächeln. »Das schert mich nicht. Die Kaiserin, hat sie Euch... bestraft?«
»Es war nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte. Aber ich werde öfter beobachtet als früher.« Er blickte nach draußen und genoss eine Weile die Sonne. Nach kurzem Zögern trat Baltibb neben ihn. Tauben, die rings um sie auf dem Boden saßen und Körner pickten, flatterten in alle Richtungen. Sie streckte die Hand hinaus und spürte, wie warm es im Licht war. Als sie Lyrian einen Blick zuwarf, sah sie, dass er lächelte. Sie erwiderte es.
»Ich muss dir etwas sagen«, gestand er und runzelte die Stirn, als sei er nicht sicher, ob es zum Lachen war oder Grund zur Sorge. »Ich glaube... ich glaube, sie ist nicht tot.«
Baltibb begriff nicht. Er schwang beide Beine nach drinnen und beugte sich vor. »Das Mädchen, Tibb! Sie ist nicht tot. Ich habe sie gesehen.«
»Die - die Mörderin?«
Er seufzte. »Sie ist die Tochter eines Malers. Ihr Name ist Faunia. Beim Fest der Sommersonnenwende habe ich sie gesehen.« Er schwieg, versunken in der Erinnerung. »Damals im Wald war sie wie eine Bettlerin gekleidet, dabei gehört sie zu den Gilden. Sie hat gesagt, dass ich sie verwechsle. Aber es war dasselbe Gesicht, Tibb. Ich bin mir sicher. Wieso streitet sie es ab?«
»Wenn sie es wirklich ist«, sagte Baltibb bebend, »dann ist das wohl klar. Welcher Verbrecher gibt seine Tat schon zu?«
»Ich weiß nicht einmal, warum sie mich erschossen hat. Sie... sie hatte einen Grund.«
Baltibb schüttelte den Kopf. Wie konnte er sich nur so faszinieren lassen?
»Ich muss sie kennenlernen. Tibb, du musst mir beibringen, wie man mit Menschen umgeht. Wie soll ich bloß mit ihr sprechen?«
»Aber Ihr wisst doch, wie man mit Menschen umgeht. Mich versteht Ihr schon seit Jahren sehr gut«, sagte sie kleinlaut.
»Das ist etwas anderes.«
Eine Weile dachte sie darüber nach, was denn anders zwischen ihr und diesem Menschenmädchen war. Außer dass sie mit Lyrian aufgewachsen war, ihn durch die halbe Welt begleitet hatte, seine Geheimnisse kannte... und eine Dienerin war.
»Wenn Ihr wollt, dass ich Euch beibringe, wie Ihr mit ihr umgehen sollt«, sagte sie bedacht, »dann müsst Ihr mir genau sagen, was für ein Mensch sie ist.«
»Eben das weiß ich ja nicht.« Nachdenklich kaute er auf seiner Lippe, dann fasste er offenbar einen Entschluss. »Ich glaube, ich werde ihr einen Brief schreiben. Was meinst du?«
»Kann sie denn lesen?«
»Natürlich, sie gehört doch zu den Gilden.«
Baltibb spürte, wie sich Trotz in ihr regte. Natürlich war ihr klar, dass es Schreiber unter den Gilden gab, aber sie hatte nie daran gedacht, dass Bücher und Briefe für andere als Drachen bestimmt sein könnten.
»Ich habe einen Vorschlag«, sagte sie. »Ich erkläre Euch, wie ein Mensch denkt und fühlt, aber dafür muss ich Eure Briefe lesen können. Wie lange dauert es, bis ich das lerne?«
Verdutzt sah er sie an und zuckte die Schultern. »Eine Weile bestimmt. Vielleicht erzähle ich dir lieber, worum es geht.«
»Nein. Ich möchte lesen können. Wie die Gildenmitglieder. Außerdem«, fügte sie rasch hinzu, »kann das nur von Vorteil für uns beide sein; wenn Ihr mich mal nicht besuchen kommt, könnt Ihr mir einen Brief schreiben.«
Lyrian lächelte. »Also schön. Dann müssen wir aber Unterrichtsstunden festlegen.«
Sie machten eine verlassene Pagode in den Gärten als Treffpunkt aus, bei der sie als Kinder wilde Erdbeeren gepflückt hatten. Hier würden sie kurz vor Sonnenuntergang ihren Unterricht abhalten.
Mitten in der Nacht schrak Baltibb auf. Mond winselte im Schlaf, und durch die Wand hörte sie das Schnarchen ihres Vaters, doch sonst war alles still.
Faunia. Der Name ging ihr nicht aus dem Kopf. Faunia. Der Lehrling eines Malers also.
Baltibb schob die Decke weg und stand eine Weile reglos in der halbdunklen Kammer. Der Grund, warum sie aufgewacht und aus dem Bett gestiegen war, bewegte sich in ihrem Unterbewusstsein und hatte sie noch nicht ganz erreicht. Schließlich kniete sie an der Wand unter dem Fenster nieder und fühlte nach einer Stelle, wo die Steine nicht
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