Rabenmond - Der magische Bund
richtig aufeinandersaßen. Hinter einem herausnehmbaren Splitter war ein enger Hohlraum, in dem sie getrocknete Blumen versteckte, die sie irgendwann mit Lyrian gepflückt hatte. Ein zusammengefaltetes Papier lag dazwischen. Vorsichtig nahm sie es heraus, setzte sich auf ihr Bett und wog es in der Hand. Schließlich rollte sie es auf.
Geschwungene Tintenzeichen und das kaiserliche Siegel. Sie fuhr die Buchstaben nach, die sie nicht verstand. Es war Lyrians Schrift. Die Zeichen sahen aus wie er, dachte sie. Striche wie sein Mund, wenn er lächelte.
Wie oft hatte sie überlegt, was dort stand - obwohl sie sich den Inhalt ja im Grunde denken konnte.
Verschont das Mädchen, das... Auf kaiserlichen Befehl wird die Verbrecherin freigesprochen, die... Bringt sie nicht um... bringt sie in den Palast. Bringt sie zu Prinz Lyrian, den sie erschossen hat.
Baltibb atmete tief und lautlos durch. Manchmal stellte sie sich vor, wie die Unbekannte umgebracht worden war. Vielleicht hatten die Sphinxe sie gefressen. Vielleicht war sie geköpft worden.
Und vielleicht war sie gar nicht tot, sondern trieb sich auf Palastfesten herum.
Baltibb presste die Augen zu und das Papier knisterte leise in ihrem Griff. In jener Nacht war sie nicht ins Gefängnis gegangen, wie Lyrian ihr befohlen hatte. Sie hatte genau hier gesessen, die ganze Nacht lang, und das Papier in den Händen gehalten wie jetzt. Und jede Minute hatte sie gedacht, vielleicht stirbt sie gerade.
Sie wusste, dass es ein furchtbares Vergehen war. Wie konnte sie ihre Entscheidung über die eines Drachen stellen? Noch dazu die des künftigen Kaisers? Sie hatte den Tod einer Unbekannten abgewartet, deren Rettung sie aus eigenem Beschluss ablehnte.
Und jetzt war diese Unbekannte vielleicht gar nicht tot. Das brachte ungeahnte Gefahren. Was, wenn Lyrian erfuhr, dass sie ihn belogen hatte? Dass sie sich seinem Willen widersetzt, dass er ihr vertraut und sie ihn hintergangen hatte? Ein Schauder lief ihr über den Rücken.
Ritus
M ion saß auf der kleinen Brücke im Hofgarten und tauchte ihre Zehen in den Teich. Zierfische glitten unter ihr dahin wie Farbflecken und Wasserläufer geisterten von einem Seerosenblatt zum anderen. Dann hörte sie, dass jemand näher kam, und hob den Kopf.
Es war Jagu. Wortlos stützte er die Arme auf das Brückengeländer, und weil Mion nicht als Erste grüßen wollte, beobachteten sie beide die Wasserläufer. Jetzt, wo Mion nicht mehr alleine war, fiel ihr auf, wie unerträglich langweilig die Tiere waren.
Jagu räusperte sich. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dir etwas übers Malen beizubringen.«
Sie warf ihm einen scheelen Blick zu. »Was soll das?«
»Ich finde nur, es wird langsam Zeit. Immerhin bin ich dein Meister. Ein paar Pflichten habe ich zu erfüllen.«
Forschend beobachtete sie ihn. »Meinst du das ernst?«
»Ja, Mion.«
»Warum?«
Er seufzte. »Du denkst wirklich, dass ich alles aus Berechnung tue.«
»Man lernt aus Erfahrung.«
Schweigend widmeten sie sich wieder den Wasserläufern.
Jagu zog eine Schriftrolle unter seinem Wams hervor. Das rote Wachssiegel war aufgebrochen.
»Heute ist ein Brief für Faunia gekommen. Aber ich glaube, der Absender hat sich im Namen geirrt...« Behutsam schob er ihr die Rolle zu. Mion starrte darauf. Das Siegel zeigte Wynters Wappen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Der Prinz will ein Porträt. Von dir, Mion. Glückwunsch. Du bist die jüngste Malerin aller Zeiten, die ein Mitglied der Kaiserfamilie porträtieren darf.«
Als sie sich endlich wieder bewegen konnte, stand sie auf und stapfte davon.
»Mion!« Jagu lief ihr nach und drückte ihr den Brief in die Hand. »Verstehst du denn nicht - das hier, das ist dein Eintritt in ihre Welt! Du hast es geschafft. Begreif doch.« Er lächelte.
So viel wollte Mion ihm sagen, dass sie kein einziges Wort über die Lippen brachte. Er kam ihr auch zuvor.
»Es ist keine Falle. Wenn der Prinz deinen Tod wollte, hätte er längst Sphinxe geschickt. Und er hätte sich nie drei Tage Zeit gelassen. Du hättest ja längst über alle Berge verschwinden können.«
»Vielleicht mache ich das auch.«
Jagu ging nicht einmal darauf ein; er wusste wie sie, dass es eine leere Drohung war. Am liebsten wäre sie abgehauen, nur um ihm das Gegenteil zu beweisen.
»Es geht ihm nicht einmal um ein Porträt. Es gibt genug Maler, die sich bereits bewährt haben und mehr davon verstehen als ein Lehrling. Es ist nur ein Vorwand, um dich
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