Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
abzuführen. Aber versuchen wollte sie es. Wenigstens ein bisschen. Was blieb ihr sonst übrig? In der Küche ließ sie sich Brotas und eine Art Holundersaft geben. Es war erst Mittag, die längste Zeit des Vormittags hatte sie mit Herumfragen verbracht. Jetzt auf einmal hatte sie nichts mehr zu tun und jeder andere Ort als der Turm erschien ihr gefährlich. Zumal sie in der Küche aufschnappte, dass Amandis’ Verwandtschaft eingetroffen sei – Sistra Reling, die Schwester der berühmten Morawena, und Ega Miss, deren Mann ein grauenhaftes Schicksal ereilt haben sollte. Während des Krieges. In Brisa. Glücklicherweise schien die nette Küchenhilfe, die Elsa die Brotas zusammenpackte, nicht zu wissen, dass Elsa in dieses grauenhafte Schicksal verwickelt gewesen war. Doch Ega wusste es und die befand sich innerhalb der gleichen Schlossmauern wie Elsa. Daher fühlte Elsa den dringenden Wunsch, mit den Flügeln zu schlagen und sich eiligst aus dem Staub zu machen, doch ihre Vernunft hielt sie davon ab. Ega war der eine Schrecken, Gaiupers Schläger der andere. Sie musste irgendwo dazwischen einen Weg finden, ihre Haut zu retten. Auch wenn ihr das gerade unmöglich erschien.
Kurz darauf stand sie in ihrem Turmzimmer und überlegte, ob es statthaft wäre, in diesem verwahrlosten Raum Besuch zu empfangen. Der Boden war übersät von Sand, kleinen Steinen und welken Blättern. Es staubte nur so, wenn sie mit ihrem langen Kleid darüber ging. Ebenso staubte das Bett, als sie es richtete, und das kaputte Fenster klapperte im Wind. Der klamme Geruch von Verlassenem, Unbewohntem hing in der Luft und die Erinnerung an eine fast Vergessene, an Angais. Es fröstelte Elsa, wenn sie an das Mädchen dachte. Das war zwar ungerecht, aber wer wollte schon gern daran erinnert werden, mal jemand anders gewesen zu sein. Unbeliebt, schwach, krank und dann auch noch tot. Elsa setzte sich an den Tisch, zog ein Buch aus dem Stapel des Bibliotheksweberknechts, schlug es auf und sah sich die Buchstaben an. Ihr Herz klopfte. Wie könnte sie jetzt lesen? Ach, es war hoffnungslos.
Da der Sommer in den Herbst überging, waren seine Farben besonders tief. Elsa dachte es, als sie aufstand, in den blauen Himmel sah und die grünen Wiesen jenseits der Schlossmauern betrachtete. Selbst die Mauern hatten einen dunkelblauen Schimmer, nichts wollte farblos untergehen. Es war warm und doch war die Luft, die zum Fenster hereinströmte, frisch. Wenn sie das Buch hätte, wenn sie es am verabredeten Zeitpunkt übergab und Gaiuper sein Versprechen halten würde – wohin würde sie dann gehen? Würde sie Sommerhalt verlassen und nie mehr wiederkehren? Aus einem Grund, den sie nicht verstand, war es schwer vorstellbar, Sommerhalt den Rücken zu kehren. Etwas war an diesem Ort, das sie nicht losließ. Angais hatte hier kein Glück gefunden und doch war sie zurückgekommen. Warum nur?
Vielleicht musste sie sich besser erinnern. Doch wenn sie es widerwillig versuchte und die Augen schloss, um Angais’ Erinnerungen heraufzubeschwören, geschah das Gegenteil. Alle Bilder und Gedanken flohen, sobald sie ihre Aufmerksamkeit darauf richtete. Im Grunde geschah die ganze Zeit nur eines: Sie wurde immer nervöser. Nie im Leben würde sie das Buch bekommen. Außerdem fürchtete sie sich vor Anbar, wenn sie ehrlich war. Er hatte so etwas Einschüchterndes. Sie brauchte nur an den Tag der Schlacht zu denken, dann spürte sie schon wieder seine Klinge an ihrem Hals. Sie musste sich erst wieder bewusst machen, dass es am Ende sie gewesen war, die ihm Kopfschmerzen verursacht hatte, und nicht umgekehrt. Dabei kam ihr ein sehr merkwürdiger Gedanke: Wäre es vielleicht möglich, dass er den Reif an ihren Hals mit Absicht durchtrennt hatte? Um ihr die Flucht zu ermöglichen und damit Sommerhalt vor der Katastrophe zu bewahren? Schließlich war Gaiuper abgezogen, nachdem ihr Verschwinden bekannt geworden war, und sonst hätte er es nicht getan.
Sie stützte die Arme auf den Tisch und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. War nicht ihr Hals, sondern der Reif das Ziel der Klinge gewesen? Machte das am Ende einen Unterschied? Bedeutete das vielleicht, dass er ihr das Buch geben würde, nur um sie wieder loszuwerden? Damit sie aus Sommerhalt verschwand? Aber das war weit hergeholt. Sie könnte ihn ja fragen, wenn er kam. Andererseits hatte sie den Eindruck, dass er selten die Wahrheit sagte, wenn man ihn etwas fragte. So viel zur antolianischen Rechtschaffenheit. Wie oft hatte er
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