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Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Titel: Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kammer
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gedacht und keine erhellende Antwort erwartet. Umso überraschter war sie über das, was jetzt kam.
    „ Ich mag deine Augen“, sagte er. „Ich frage mich immer, wo sie hinführen.“
    Elsa hatte sich noch nie gefragt, wo ihre Augen hinführten. Sie hatte es nicht gewagt, sich das zu fragen.
    „ Ich fürchte, sie führen nirgendwohin“, sagte sie. „In ihnen steckt ein Nichts, das hast du selbst mal gesagt.“
    „ Für einen Sterblichen fühlt es sich so an. Aber darin erschöpft es sich nicht. Ich glaube, man braucht keine Angst davor zu haben.“
    Das sagte er mit so einer Überzeugung, dass sie fast selbst dran glaubte.
    „ Schön wäre das. Aber seit ich denken kann, habe ich Angst davor. Sie sind wie Löcher, in die man nicht hineinfallen sollte.“
    Zeit verging, bevor er etwas dazu sagte. Nächtliche, bedeutsame Zeit. Die unsichtbaren Götter wandelten auf und ab, mitten durch Elsa hindurch.
    „ Wenn die Dinge anders wären, als sie es sind“, sagte er schließlich, „dann könntest du es dir leisten hineinzufallen. Du könntest herausfinden, wohin es dich bringt oder ob das, was du jetzt noch für dein Leben hältst, sich in etwas ganz anderes verwandelt. Nur leider ist das nicht möglich. Du wirst in Istlands Spiegel schauen und so tun müssen, als wären deine Augen nicht unendlich. Gib ihnen keinen Raum über das Glas hinaus, halte sie für ganz normal. Dann wirst du aufhören, Angst vor ihnen zu haben, und die anderen werden sich auch nicht mehr davor fürchten.“
    „ Du glaubst, das geht? Ich mache die Tür zur Unendlichkeit zu und dann ist alles gut?“
    „ Es geht, wenn du es willst. Die Frage ist, was du auf Dauer willst. Wenn ich du wäre, würde ich vermutlich alles wollen, was mich vor einem Käfig und so Leuten wie Gaiuper rettet.“
    „ Das will ich auch.“
    „ Jetzt, ja. Mal sehen, ob es für ein Leben reicht.“
    Sie war sich sicher, dass das reichte. Wenn es stimmte, dass sie die Tür für immer zumachen konnte, sodass kein böser Traum mehr hindurchkommen konnte – was um alles in der Welt sollte sie dazu bringen, diese Tür wieder aufzumachen?
    Der Ort unter den Sternen brachte Elsa zum Schweigen. Mit Tausenden von Jahren auf dem Buckel lag er da, selig dem Himmel zugewandt, furchtlos gegenüber seiner Tiefe. Noch nie hatte Elsa das Gefühl gehabt, am richtigen Ort zu sein, zur richtigen Zeit. Aber gerade hatte sie es. Alles stimmte, bis auf den Umstand, dass nichts so bleiben konnte, wie es war. Sie wünschte, sie könnte durchlässig werden, sodass der Ort und alles, was ihn ausmachte, in sie hineinströmte, damit sie ein anderer Mensch würde, der das, was sich richtig anfühlte, in sich und mit sich herumtrug. Doch das einzige, was spürbar in sie hineinströmte, wenn sie sich dem Hier und Jetzt öffnete, war Trennungsschmerz. Nichts konnte richtig bleiben, denn alles Richtige musste zurückbleiben, wenn sie nach Hause ging. Bestimmt gab es keine unsichtbaren Götter in Istland und wenn, dann waren sie so dermaßen unsichtbar, dass man sie unmöglich bemerken konnte. Elsa wusste jetzt schon, dass sich das leer anfühlen würde. Wie Wenslafs Tiefkühltruhe, wenn der Sommer vorbei war und der Strom abgeschaltet und niemand mehr vorbeikam, um Erdbeereis zu kaufen.
    In der Dunkelheit sah sich Elsa nach Anbar um. Er beobachtete die Wiese und sie kam nicht umhin, sich zu fragen, woran er wohl gerade dachte. Ob er überhaupt etwas dachte. Vielleicht waren heldenhafte Menschen seiner Art ja dazu in der Lage, die Gedanken abzuschalten und sich auf das wirklich Wichtige zu konzentrieren. Elsa konnte das nicht. Ihre Aufmerksamkeit wanderte über die Grasspitzen und verlor sich irgendwo zwischen Himmel und Erde. Sie wusste nicht, wie und warum, aber sie war nicht mehr die Gleiche. Ihre Grenzen hatten sich verändert. Es waren nicht mehr die gleichen Grenzen wie vor ihrer Gefangenschaft, was komischerweise dazu führte, dass sie sich gerade gar nicht alleine fühlte. Das mochte so sein wie mit den Welten und dem Zwischenraum. So wie sich die Grenzen zwischen den Welten im Zwischenraum auflösten, konnten vielleicht auch die Grenzen zwischen zwei Menschen verschwimmen. Dann öffnete sich ein Tor und man konnte hindurch- und hinübergehen und dem anderen „Hallo!“ sagen, indem man ihm mit einem beseelten Geisterfinger an die Stirn tippte. Natürlich machte sie das nicht. Es war ja auch nur ein dummer Gedanke. Wie es sich mit Anbars Grenzen verhielt, davon hatte sie nicht die

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