Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
das Tal säumte. Der Boden aber war kalt. Elsa musste dort schon eine ganze Weile gelegen haben, schlafend oder bewusstlos. Sie fühlte sich jedenfalls grauenvoll und die Erinnerungen an die Kämpfe in Hagl, die langsam zurückkamen, machten es auch nicht besser. Dazu kam die Angst. Dass Gaiuper sie früher oder später finden würde, stand außer Frage. Was würde er dann mit ihr machen? Schon legte sie sich Ausreden im Kopf zurecht. Sie könnte behaupten, es sei plötzlich schwarz in ihrem Kopf geworden und sie könne sich an gar nichts erinnern. Nein, niemals habe sie weglaufen wollen.
Noch armseliger als ihre Ausrede war das Ergebnis ihrer Bemühungen. Da hatte sie sich so fest vorgenommen, dieses Leben gegen das nächste zu tauschen. Stattdessen hatte sie drei oder vier Antolianer ins Jenseits befördert. Unter ihnen Anbar, der ihr doch mal ernsthaft versprochen hatte, er werde sie nach Istland zurückbringen, wenn er herausfände, wo es sei. Aber das war lange her und jetzt würde er es nicht mehr tun.
Elsa drehte sich vom Rücken auf den Bauch. Sie war ratlos und niedergeschlagen. Aber sie konnte nicht ewig so liegen bleiben, sie musste eine Entscheidung treffen, was jetzt als Nächstes mit ihr geschehen sollte. Solange sie in Sommerhalt war – und sie nahm an, dass sie sich immer noch in Sommerhalt befand – konnte Gaiuper sie nur mit dem Pferd einholen. Wenn sie also flöge, dann würde er eine Weile brauchen. Das gab ihr einen Vorsprung. Aber was sollte sie damit anfangen?
Sie musste an das Buch denken, dass sie in Brisa zurückgelassen hatte. Das Buch sollte ein geheimnisvoller Schlüssel sein, der für Raben von Bedeutung war. Elsa konnte nicht umhin, dieses Buch haben zu wollen. Sie wollte es lesen. Danach konnte es Gaiuper haben oder auch nicht. Jedenfalls kam es ihr gerade sinnvoll vor, nach Brisa zu fliegen und dort das Buch aufzutreiben. Was sollte sie sonst tun? Wenn Gaiuper dann kam und sie abkassierte, könnte sie ihn mit dieser Beute besänftigen. Das war immerhin ein Plan. Eine Richtung, die sie einschlagen konnte. Es belebte sie.
Da es nun kalt und immer kälter wurde – vielleicht war ja doch Frühling und nicht Sommer – rappelte sich Elsa im Gras auf und nahm die vertraute Gestalt eines Raben an. Als sie aufbrach, war es Nacht. Elsa flog unter den Sternen dahin, flog über ein Nebelfeld am frühen Morgen, machte eine Pause im Dunkel hoher Baumkronen und setzte dann ihren Weg fort, bis sie am frühen Nachmittag die Hänge von Brisa erblickte. Auf der Suche nach einem Ort, an dem sie sich ungestört zurückverwandeln konnte, entdeckte sie ein öffentliches Bad mit hölzernen Umkleidekabinen. Der Tag war ebenso warm und sommerlich wie der gestrige und das Bad gut besucht. Es fiel kaum auf, dass ein Rabe dort landete und unter einer Tür hindurch in eine der Kabinen wackelte, um sich sogleich in einen Menschen zurückzuverwandeln. Das Ergebnis dieser Verwandlung sprang Elsa aus einem Spiegel entgegen und sie war schockiert.
Denn vor sich sah sie Amandis in Elsas schwarzen Kriegsgewändern, die teilweise zerfetzt und über und über mit Blut beschmiert waren. Amandis’ Gesicht sah nicht besser aus. Die normale Hautfarbe war kaum zu erkennen, die Augen traten hervor aus tief liegenden Augenhöhlen und ins Gesicht hängenden Strähnen von braunem, verkrustetem Haar. So konnte sie sich nirgendwo blicken lassen.
Elsa unternahm einen zweiten Versuch. Diesmal steckte Amandis in einem eleganten Kleid aus ihrem eigenen Kleiderschrank, doch das Blut klebte immer noch an Haut und Haaren, obwohl Elsa wusste, dass so etwas Äußerliches im Grunde genauso verschwinden konnte wie die Zahnfüllung, die Elsa als Elsa mit sich herumtrug. Nun wollte sie sowieso nicht mit Amandis’ Gesicht durch Brisa laufen, denn die Gefahr, erkannt und entdeckt zu werden, war viel zu groß. Also versuchte sie, jemand anderer zu werden und sah als Resultat sich selbst als Elsa aus Istland im Spiegel stehen, diesmal in Amandis’ Kleid, aber immer noch blutverschmiert. Sie startete den nächsten Versuch und wurde wieder Amandis, zur Abwechslung in istländischer Kleidung.
Elsa sah sich ratlos im Spiegel an. Sie hatte eigentlich gar keine Ahnung, wie man sich in einen anderen Menschen verwandelte. Es hatte ihr auch niemand beigebracht. Tiere waren kein Problem. Aber die einzigen Menschen, die sie zustande brachte, waren sie selbst (mit Ulissas Gesicht) und Amandis. Das war seltsam genug, denn weder Ulissa noch Amandis
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