Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
tatsächlich in eine Krähe verwandeln müssen, doch sie fürchtete dabei um das Messer der Köchin und ihr Sonntagskleid, das sie nach ihrer Rückkehr noch brauchen würde. Der Aeiol würde immer wieder auftauchen, da war sie sicher, aber weder Messer noch Spitzenärmel spielten in Elsas Unterbewusstsein eine große Rolle und konnten sich in Luft auflösen, wenn sie Pech hatte. Unschlüssig stand sie an diesem makellos schönen, wilden Ort: Das Wasser hatte eine grüne Farbe, die zur Tiefe hin immer dunkler und undurchsichtiger wurde. Je länger Elsa hineinstarrte, desto mehr faszinierte sie dieses gläserne, rätselhafte Wesen des Sees. Dann auf einmal kam ein Fisch geschwommen, seine grauen Schuppen glitzerten im Sommerlicht. Er riss sie aus ihrem verträumten Zustand.
Sie kletterte erst mal am Ufer entlang und nachdem sie das erste Mal mit ihren Stadtschuhen ausgerutscht und bis zu den Knien im See gelandet war, zog sie sie aus und versteckte sie unter einem Busch, in der Absicht, sie auf dem Heimweg wieder abzuholen. Barfuß ging es viel einfacher und es fühlte sich auch gut an, als sie das Gras auf der anderen Seite des Sees erreichte. Von hier aus führte ein Pfad in den Wald und sie folgte ihm.
Die Ruine hatte sie als dunklen, unerfreulichen Ort in Erinnerung. Umso mehr staunte sie, als der Pfad, der stetig bergan gestiegen war, in einer großen Wiese mit weißen Blumen endete, und sich dahinter die reinste Bilderbuch-Ruine in den blauen Himmel erhob, gar nicht dunkel, gar nicht düster, sondern ein halb verwittertes Gemäuer, über das Efeu und Bäume gewachsen waren. Am anderen Ende der Wiese war das Tor, unsichtbar an diesem Sommertag, doch deutlich spürbar für Elsa. Möwen gab es keine, nichts wirkte unheimlich an diesem Ort. Er war vollkommen verlassen.
Trotzdem wollte Elsa noch eine Weile hierbleiben. Es war möglich, dass Niko oder Morawena hier auftauchten, um nach ihr Ausschau zu halten. Wahrscheinlich war es nicht, aber sie wollte es nicht unversucht lassen. Außerdem konnte sie sich keinen schöneren Ort vorstellen und bedauerte es, dass sie nicht rückwärts durch die Zeiten sehen konnte, um Morawena, Anbar und Nada als Kinder hier spielen zu sehen. So verträumt war sie bei dieser Vorstellung, dass sie niemanden kommen hörte. Als sie eine Stimme hörte, unmittelbar hinter sich, erschrak sie.
„Das ist gut, dass ich dich hier treffe“, sagte der Fremde.
Sie war im gleichen Moment herumgefahren, um ihm das Messer der Köchin unter die Nasenspitze zu halten, aber er zuckte nicht mal, als sie es tat. Er war vollkommen gelassen. Diesen selbstsicheren, unerschütterlichen Menschen hatte sie schon mal gesehen. Ihn, seine farblosen Augen und den Mund, der fast nur ein langer Strich war und keine Regung verriet, nicht mal in den Mundwinkeln.
„Du bist Legard“, sagte sie, das Messer weiterhin auf seine Nase gerichtet.
„Ja, und du bist Elsa, auch wenn du nicht aussiehst wie sie.“
Das stimmte. Sie war Elsa, sah aber wie Migrall aus.
„Woher weißt du dann, dass ich Elsa bin?“, fragte sie.
„Du hast da schwarze Zeichen im Nacken. Eine Geheimsprache, mit der sich eine bestimmte Sorte von Rabendienern wichtig macht. Was den Abschnitt zwischen deinem Hals und den Schulterblättern schmückt, bedeutet: ‚Ich bin der Rabe, der Rabe ist alles und nichts’.“
Elsa lachte in Legards ungerührtes Gesicht.
„Dir fehlt der Rest. Der Rabe ist nicht alles und nichts, sondern es heißt: Der Rabe ist alles und nichts soll außer ihm sein.“
„Was ist dann mit den anderen Raben“, fragte Legard ehrlich interessiert. „Dürfen die auch nicht außer dir sein?“
„Von mir aus dürfen sie alles. Ich habe den Mist, der auf meinem Rücken steht, nicht erfunden.“
„Es ist Mist, das sehe ich auch so.“
Sie ließ das Messer sinken. Es machte ja keinen Sinn, ihn weiter zu bedrohen, da es ihm auch sichtlich egal war, ob sie es tat oder nicht. Sie steckte ihr Messer wieder in die Schlaufe und schaute sich das Obergenie mit den lockeren Schrauben etwas genauer an. Er war ungefähr so groß wie Anbar, ein bisschen schmaler im Gesicht und wahrscheinlich jünger. Er trug sein dunkelblondes Haar in einem Zopf und hatte neugierige Augen. Sein Mund, dieser unbewegliche Strich, mochte nichts über seine Stimmung verraten, ebenso wenig wie der Rest des Gesichts und doch war Elsa ganz sicher, dass Legard guter Dinge war.
„Hast du auch geschworen, dass du mich umbringst, wenn du mich
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