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Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)

Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)

Titel: Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kammer
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Carlos kannte diesen Moment. Er würde vermutlich auch dort sein, falls es etwas zu bereden gab. So wie letztes Mal. Aber wann war dieser Moment? Wann würde er sein? Wenn Elsa heute dorthin gehen würde, dann war er vielleicht heute. Wenn sie morgen nach Istland gehen würde, dann wäre er morgen. Aber sie durfte nicht gehen. Abgesehen davon ging die Rechnung womöglich nicht auf. Vielleicht würde sie noch viele Male nach Istland gehen, vielleicht lag der Zeitpunkt, von dem Carlos gesprochen hatte, in ferner Zukunft. Aber nein, die Welt ging ja unter. Es sei denn, Carlos hatte noch ein paar drastische Mittel angewendet, um das zu verhindern. Wenn er sie nur beruhigen könnte in dieser Hinsicht.
    Nach einem Abendessen aus Brot, Käse und Eiern ging Elsa wieder die Treppe hinauf, um zu schlafen. Es musste schon nach Mitternacht sein. Der Gedanke, dass sie hier weit und breit der einzige Mensch war, begann sie zu beunruhigen. Sie schaute noch einmal aus dem Fenster, sah aber nichts Bemerkenswertes außer schönen Sternen, die sie für ein paar Atemzüge gefangen nahmen. Die Sternenseligkeit täuschte sie fast darüber hinweg, dass es in dieser Einsamkeit eine Bedrohung geben musste, die vor allem deswegen gruselig war, weil es keinen sichtbaren oder hörbaren Hinweis auf sie gab. Elsa wusste nur, dass der Bewohner dieses schmucken, kleinen Häuschens sein Heim im Stich gelassen hatte, und dafür musste es einen Grund geben. Einen zwingenden und sehr unerfreulichen Grund, den Elsa nicht kannte. Doch sie versicherte sich selbst, dass es nur noch wenige Stunden waren, bis die Sonne wieder aufgehen würde, und bis dahin würde bestimmt nichts passieren. In diesem Irrglauben legte sie sich schlafen.
    Es war noch dunkel, als eine plötzliche Explosion das halbe Haus auseinander riss. Es klang, als ob ein Bombenhagel auf das Dorf niederginge. Elsa hörte es überall knallen, krachen, bersten und donnern. Gleichzeitig schwankte das Mauerwerk, an dem sich Elsa nach der ersten Explosion festgehalten hatte. Dann folgte der nächste Einschlag in Elsas unmittelbarer Nähe: Im Feuerschein sah sie ein Brett an der gegenüberliegenden Wand, auf dem lauter bauchige und mit roten Punkten verzierte Tontöpfe standen. Binnen Sekunden löste sich die Wand in Millionen kleine Steinchen auf und gab das Brett frei, das nun eine unfreiwillige Reise antrat. Mitsamt den Töpfen flog es auf Elsa zu, und das in erstaunlicher Langsamkeit. Die Töpfe rutschten voraus und fielen im Flug vom Brett, jedoch ohne an Höhe zu verlieren, und Elsa, die einen Druck verspürte, als wolle man sie kilometerweit in die Ferne pusten, merkte, wie die Mauer in ihrem Rücken nachgab. Brett und Töpfe segelten weiterhin in ihre Richtung, im Begriff, sie zu köpfen oder ihren Schädel zu zermalmen, falls sie nicht rechtzeitig mit der Mauer ins Freie rauschte, wo sie von einem Regen und Hagel aus Steinen hinabgerissen und begraben werden würde.
    Sie wusste, dass die Langsamkeit dieses Vorgangs nur in ihrem Kopf existierte, in Wirklichkeit geschah alles viel zu schnell für jedes menschliche Auge. Das lebensbedrohliche Ausmaß dieser Gefahr hatte den Raben in Elsa geweckt. Er war in der Lage, sich alles ganz genau anzusehen und die an Unmöglichkeit grenzenden Möglichkeiten ausfindig zu machen, die sie retten könnten. Er handelte entsprechend. Im gerade richtigen Bruchteil einer Sekunde, kurz bevor die rot gepunkteten Töpfchen an ihrer Schädeldecke zerschellten und das Brett ihren Kopf in eine auseinanderfliegende Mauer katapultierte, schleuderte er sie in eine andere Welt hinein. Er musste es so hastig tun, dass er keine Vorsicht walten ließ und auch das Loch unverschlossen blieb, das er in die zurückgelassene Welt gerissen hatte. Elsa spürte, wie sie durch die Grenzen schlug, aus der einen Welt hinaus und in eine andere Welt hinein, ohne Rücksicht auf Verluste. Dort angekommen rollte sie erst mal hustend und nach Luft schnappend über einen harten Bordstein. Da blieb sie liegen, um wieder zu Atem zu kommen. Niemand hinderte sie daran.
    Eine vertraute Kühle legte sich auf Elsas Gesicht und ihre Hände. Da war ein Geruch von unsichtbarem Regen in der Luft. Sie hob den Kopf. Sie sah tief hängende Wolken, lange, gerade Straßen und vereinzelt blühende Rosen in eingemauerten Beeten. Sie erkannte die Stromleitungen über den Straßenkreuzungen und die Leuchtreklame über einer chemischen Reinigung. Die Reklame leuchtete nicht, sie war ausgeschaltet, und die

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