Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
verklebt. Ein paar Leute spazierten die Straße entlang, wie sie es schon früher getan hatten, obwohl es nichts zu sehen gab. Niemand kümmerte sich um Elsa, die sich abmühte, im Dämmerlicht des verregneten Mittags die Zeitung zu lesen.
Sie fand Hinweise darauf, dass ein Weltkrieg ausgebrochen war. Man fürchtete allgemein den Einsatz einer neuen Bombe, die ganze Städte auf einen Schlag zerstören konnte und ein Land auf Jahrzehnte hin verseuchte. In drei Tagen sollte ein Gipfel stattfinden und dort ein Vertrag unterschrieben werden, der allen Beteiligten den Einsatz dieser Bombe untersagte. Falls dieser Gipfel scheiterte, rechnete man mit einer weiteren Fluchtwelle. Elsa schlug die Zeitung zu. Ihr Blick fiel noch einmal auf die Titelseite und es wurde ihr ganz anders dabei: Die Zeitung, die der Mann so grimmig verteidigt hatte, war mindestens zwei Wochen alt.
Sie warf das feuchte Papier in die Ecke und starrte vor sich hin. Alles war zu spät. Für Glück war es zu spät und für Sommernächte in Wenlache. Kristjanstadt würde ausgelöscht werden, genauso wie Hagl in Sommerhalt und das geräumte Antolia. So wie das namenlose Dorf, dessen Bewohner in besseren Zeiten rote Punkte auf ihre Tontöpfe gepinselt hatten. Vielleicht war es sinnvoller aufzuzählen, was übrig bleiben würde nach dieser sinnlosen Schlacht der Weltvernichter. Istland wäre nicht dabei. Dass die Bombe fallen würde, dass Elsa keine Heimat mehr haben würde, dass sie daran verzweifeln würde, dafür würden die Ganduup schon sorgen. Anbar mochte sagen, was er wollte, aber vielleicht war das Verfahren ja doch nicht die schlechteste Idee auf Erden gewesen. Carlos hatte gesagt, dass nur eine drastische Maßnahme die Zukunft verändern könne. Elsa überlegte, ob es drastisch genug wäre, wenn sie jetzt sterben und Istland vergessen würde. Vermutlich nicht. Sie würde alles vergessen und bis sie sich wieder erinnerte, könnten die Ganduup sie finden und zu einer der ihren machen. Damit wäre der Weltuntergang, wie Carlos ihn vorhergesehen hatte, perfekt.
Elsa dachte an Gunther-Sven und Marie-Rosa. An Urslina und Piotr. An ihre Tante Sani, an Wenslaf und an Puja. Sie alle konnten doch jetzt nicht fliehen, ihre Heimat verlieren, mutlos auf ihr Ende warten und sterben? Diese Vorstellung war Elsa unerträglich. Ein oder zwei Stunden vergingen, in denen Elsa dort saß, ohne etwas zu tun. Die Zeitung war von einem Wind ergriffen und über die Straße gezogen worden. Sie verfing sich in einem Strauch und wurde dort nass und immer nasser. Um überhaupt etwas zu tun, stand Elsa irgendwann auf und machte sich auf den Weg in die Johangata, um ihrem alten Zimmer einen Besuch abzustatten.
Niemand störte sich an ihrem verwahrlosten Aussehen, nur das Messer machte die Leute misstrauisch. Deswegen machten die wenigen Menschen, denen Elsa begegnete, einen großen Bogen um sie. Die Milchbar, in der sich Elsa und Urslina regelmäßig getroffen hatten, gab es nicht mehr. Sie war zu einem Büro umfunktioniert worden und zwei Polizisten gingen davor auf und ab. Damit die beiden erst gar nicht auf sie aufmerksam wurden, ging Elsa einen kleinen Umweg, vorbei an der Leihbücherei und dem Kino, in dessen Schaukästen sie vergeblich nach alten Tildo Jahn-Plakaten suchte. Ein handgeschriebener Zettel verkündete, dass der Betrieb des Lichtspielhauses unterbrochen werde, aber hoffentlich bald wiederaufgenommen werden könne. Das angegebene Datum lag schon Monate zurück. Elsa wollte weitergehen, da hörte sie eine Stimme neben sich.
„Behandelt man so einen alten Bekannten?“
Die Hand am Messer fuhr Elsa herum, kaum dass sie den ersten Ton vernommen hatte. Doch der Mann, den sie erblickte, war tatsächlich ein alter Bekannter. Sein Gesicht war weniger braun gebrannt als früher und seine Augen leuchteten an diesem grauen Tag fast gar nicht. Einen gelblichen Farbton hatten sie, der war Elsa vertraut, doch noch nie waren ihr diese Augen so wachsam und gefährlich vorgekommen. Wie die Augen einer Raubkatze. Der Rest war harmlos: Carlos trug einen Schnauzbart und für istländische Verhältnisse zu lange Haare, die weißen Strähnen reichten ihm nämlich bis zur Schulter. Der Hut auf seinem Kopf hatte schon bessere Tage gesehen. Überhaupt macht der Mann den Eindruck eines sehr alten Pensionärs, der nicht mehr in der Lage war, seine Kleidung in Ordnung zu halten. Aber was sollte Elsa da sagen? Sie sah auch nicht besser aus. Hier war er also, Carlos, den sie gesucht
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