Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
saßen ihr im Genick und konnten im Zwischenraum Gestalt annehmen. Doch nicht Schreckliches baute sich vor Elsa auf, als die Bäume auf einmal eine Lichtung freigaben. Sie sah eine Wiese, auf der ein zweistöckiges Haus stand, aus Backsteinen gebaut. Es wirkte alt, durch seinen Baustil und weil das Mauerwerk rissig war. Auch das Dach war beschädigt und von den Fensterrahmen blätterte die Farbe ab. Es stand auf der Wiese unter tief hängenden Wolken, umgeben von Bäumen, abgeschieden und verschlossen. Sie fanden aber einen Eingang zum Keller und der erwies sich als brauchbares Schlupfloch.
Es war höchste Zeit, denn Morawena hatte glasige Augen und unter dem kalten Regen eine viel zu heiße Haut, wie Elsa feststellte, als sie es wagte, Morawena zu berühren. Während Nikodemia den Holzofen anheizte, half Elsa der schwachen Morawena aus der nassen Kleidung und wickelte sie in mehrere Decken. Ohne zu widersprechen, legte sich Morawena auf die einzige Matratze, die es im Keller gab, und schloss die Augen. Als Elsa wenig später versuchte, ihr eine Suppe aus Kohl und Speck einzuflößen, vergrub Morawena den Kopf in den Armen und weigerte sich, auch nur einen Löffel davon zu probieren. Schließlich gab Elsa auf. Sie setzte sich zu Nikodemia an den Ofen und trank selbst drei Schüsseln leer, so hungrig war sie und so gierig auf etwas, das sie von innen wärmte.
Sie hatten all ihre Kleider zum Trocknen aufgehängt, und sich in Decken gehüllt, die zwar stark nach feuchtem Keller rochen, doch von denen es hier reichlich gab. Zwei vergitterte Kellerfenster befanden sich unterhalb der Kellerdecke, aber im Moment ließen sie kaum Licht herein. Der Ofen machte ein bisschen warmes Licht, ebenso wie die reichlich angestaubte, dicke Kerze, die Elsa in einer Schublade gefunden hatte. Glücklicherweise standen im Keller große Schränke mit Vorräten, insbesondere Konserven mit Mandarinen, Erbsen und Schwarzwurzeln. Nikodemia kannte weder Konserven noch Dosenöffner. Entsprechend verständnislos beobachtete er Elsas Jubel, als sie in einer Schublade einen verrosteten Küchenhelfer fand, mit dem man nicht nur Dosen öffnen, sondern auch Korken ziehen und Limonadenflaschen entdeckeln konnte. Dass es in diesem Keller ausgerechnet eine grüne, istländische Waldmeisterbrause gab, überzeugte Nikodemia endgültig davon, dass Elsa an der Ausstattung ihrer Unterkunft mitgewirkt hatte. Wenn sie auch nicht wusste, wie. Hätte sie willentlich Einfluss nehmen können, dann hätten sie drei Matratzen mit Federbetten vorgefunden und nicht auf dem Steinfußboden schlafen müssen.
Als Elsa sicher war, dass Morawena fest eingeschlafen war, rückte sie nahe an Nikodemia heran und sprach fast lautlos in sein Ohr:
„Was ist mit Carlos? Wird er voraussehen, wo wir sind, und dann zu uns stoßen?“
„Schwer zu sagen. Er muss selbst sehen, wo er bleibt. Vielleicht kommt er uns in ein paar Jahren besuchen. Wenn wir sesshaft geworden sind.“
„Ich bin schon lange nicht mehr sesshaft gewesen“, sagte Elsa. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich lange an einer Stelle sitzen könnte.“
„Das wirst du dir noch wünschen. Es kann lange dauern, bis wir einen passenden Ort finden.“
„Brauchst du ein Tor?“, fragte sie. „Oder kannst du’s auch ohne?“
„Ich kann es vielleicht auch ohne, aber das Problem ist, dass ich die Löcher, die dadurch entstehen, nicht schließen kann.“
„Was für Löcher?“
„Wenn wir keine Tore benutzen, dann zerreißen wir eine Welt an der Stelle. Es gibt ein Loch. Ein neues Tor, ein ganz winziges. Das kann nicht jeder benutzen, nur das geübte Auge findet es. Aber die Möwen könnten es wohl. Wenn das Loch noch einmal durchschritten wird, wird es größer. Mit jedem Mal, das es benutzt wird, wird es größer. So entstehen Tore.“
„Ach, so ist das.“
„Zu viele Löcher sind schädlich für die Welten. Für uns sind sie schädlich, weil sie uns verraten. Carlos konnte sie schließen. Wenn er ein Loch gemacht hat, hat er es hinter sich wieder zugemacht. Ich kann das leider nicht.“
„Aber im Notfall könntest du entwischen, ohne ein Tor zu benutzen, und die Welten würden deswegen nicht untergehen?“
„Ja, so habe ich es auch gemacht, als wir durch den Zwischenraum geflohen sind und sie dich geschnappt hatten. Danach waren sie nämlich hinter mir her.“
„Sind wir so auch in den Zwischenraum gekommen? Damals, vom Matrosenviertel aus?“
„Nein, das war ein Tor, das sich Carlos für
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