Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
es die Möwen taten.
Schon lange hatte sie keine so weichen Knie mehr gehabt und sich gefürchtet wie jetzt, da sie in die enge Gasse hinaustrat und eilig in Richtung Stadtmitte lief. Es war nur zu wahrscheinlich, dass sie beobachtet wurde. Die Angst, dass jemand ganz plötzlich ein Netz aus Möwenfäden über sie fallen lassen könnte, brachte sie regelrecht zum Zittern. Die ganze Zeit schaute sie in den Zwischenraum und das nach allen Seiten. Daher entdeckte sie den Mann auch sofort: Sie hatte ihn noch nie gesehen, er war aber eindeutig eine Möwe und das Fädengespinst, das ihn umflatterte war ein feiner, schimmernder Flaum. Eine Riesenspinne in einem Kokon hätte nicht unheimlicher aussehen können. Er stand im Schatten, ein Mann mittleren Alters in aufrechter Haltung, dunkles Haar, kluge Augen, die nicht mal böse aussahen, nur wachsam. Kaum hatte er sie entdeckt, so wie sie ihn, machte er einen Satz auf sie zu, mehr fliegend als springend, ein Hexenwerk, das er mit Hilfe seiner Möwenfäden vollbrachte. Sie schoss in die Luft, als Rabe, und entkam im letzten Moment. Doch der Mann erklomm in Windeseile die Dächer und verfolgte sie, indem er über diese sprang. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Panisch flog sie fort in Richtung Gebirge, in der Hoffnung, dass er ihr nicht folgen konnte. Auf dem Dach einer Kapelle im Wald blieb sie sitzen, schnell atmend, denkend im Hinterkopf des Raben. Sie musste die beiden finden. Andere Möwen waren bestimmt unterwegs, womöglich schon in der Stadt.
Sie musste jetzt klar denken. Es war wichtig. Sie zwang sich zur Ruhe. Wenn die Möwen sie erwischten, würden sie sie festhalten. Sie würden sie mit ihren Möwenfäden binden und daran hindern, sich zu verwandeln oder die Welt zu wechseln. Dann würden sie ihr eine Nadel oder etwas Ähnliches mit Gift unter die Haut jagen, damit sie sich verwandelte, um den Fremdkörper loszuwerden. Im Moment der Verwandlung würden sie sie packen und festhalten. Vielleicht würden sie sie in einen Käfig stecken oder in der Form gleich zu den Antolianern tragen, damit das Verfahren angewendet werden konnte. Bisher hatte Elsa nur einen Kampf mit einer Möwe gewonnen und das war der Kampf mit Edon Weiss gewesen. Denn solange sie ihre Arme bewegen konnte und eine Waffe besaß, war sie gefährlich. Die Möwenfäden raubten ihr die Rabenkräfte, aber nicht ihre ganz gewöhnlichen Körperkräfte. Wenn sie sich also verteidigen wollte, brauchte sie unbedingt eine Waffe. Die einzigen Waffen, die ihr jetzt einfielen, waren die beiden Säbel, die blitzblank geputzt und gekreuzt in Robert Sovulats Arbeitszimmer an der Wand hingen. Die Klingen waren scharf wie frisch geschliffen, das war ihr sofort aufgefallen.
Ein Rascheln ließ Elsa auffahren. Etwas näherte sich schnell durch die Blätter der Bäume und Elsa wartete nicht, um zu sehen, was es war. Sie flog hoch, doch nicht zu hoch, um den Augen des Verfolgers – wenn es einer war – zu entgehen. Dort, wo ein Gebirgsbach Richtung Tal schoss, flog sie dicht überm Wasser in die Stadt hinab und zu dem Palais, das den Sovulats gehörte. Als sie sich vor der großen Eingangstür fallen ließ und in einen Menschen zurückverwandelte, lauschte sie in den Zwischenraum. Da war kein Flüstern oder Rascheln zu hören und auch ihre Augen, mit denen sie gleich die Umgebung und den Raum dahinter absuchte, fanden nichts Verdächtiges. Vielleicht war die Möwe wirklich ganz alleine gewesen und sie hatte sie abgeschüttelt.
Der Diener, der ihr die Tür öffnete, sah sie pikiert an. Es lag vermutlich an ihren offenen Haaren, dem gar nicht landesüblichen und nicht mehr ganz sauberen Reisekleid von Amandis und den überhaupt nicht damenhaften schwarzen Stiefeln, die Elsa während der Verwandlung untergekommen waren, vielleicht, weil sie sich in ihnen besonders kampftüchtig fühlte.
„Ich muss Robert sprechen“, erklärte sie dem Diener und ging auch gleich entschlossen an ihm vorbei in die Eingangshalle. „Ist er oben?“
Der Diener schwieg, hinderte sie aber nicht daran, die Treppe hinaufzulaufen. Dort oben, in den vertrauten Räumen, fand eine kleine Abendgesellschaft statt, und Robert, der ein Glas Likörwein in der Hand hielt, kam ihr überrascht entgegen.
„Antonia, du armes Ding, du siehst ja ganz aufgelöst aus!“
„Hast du Zeit für mich?“, fragte Elsa. „Kann ich mit dir reden? Ungestört?“
„Aber sicher. Gehen wir doch hoch in mein …“
Elsa schüttelte den Kopf.
„Hier entlang“,
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