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Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)

Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)

Titel: Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kammer
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Splitter in ihrem Kopf zeigte ihr eine Möwe, die vor Schreck zusammenzuckte, doch nur kurz. „Erwartungsgemäß“, sagte der Doktor. Elsa hörte es verlangsamt, wie ein rollender Donner in Zeitlupe durchquerte seine Stimme ihren Kopf.
    Jemand packte sie unmittelbar am Körper. Mehrere Hände taten das und bald war sie überall von den Berührungen Fremder bedeckt. Es mochte daran liegen, dass die Fesseln lose um sie herumlagen und sie viel kleiner geworden war. Sie zappelte orientierungslos, sah kurz einen Krähenfuß. In ihrem Zustand war ihr kaum klar, dass es ihr eigener war. Er flog irgendwo durch den Raum, abgetrennt vom Rest, ebenso wie ein Glasbehälter, der in ein Gerät gesteckt wurde, das einer Pistole glich.
    Vor Elsas Augen bewegten sich Finger, eine Schnur wurde abgeschnitten. Dann merkte sie, dass sie den Schnabel nicht mehr aufmachen konnte. Sie lag auf dem Rücken, mit ausgebreiteten Flügeln, die gegen die Steine gedrückt wurden. Wieder ein zappelnder Krähenfuß, jemand drückte ihn nach unten. Über ihr war das Gesicht des Doktors. Es war schweißüberströmt.
    „Jetzt zählt es“, sagte er.
    Elsas Bewusstsein befand sich in dem Moment irgendwo zwischen der Nase des Doktors und ihrem linken Auge. Sie wunderte sich darüber, dass dieses Bewusstsein denken konnte und wusste, wo oben und unten war. Vielleicht war es nur ein Bruchstück ihrer selbst, ein Splitter, der eigenständig dachte, während der Rest zusammenhanglos in einer apathisch zappelnden Krähe herumspukte. Dieses plötzliche Geschenk der klaren Wahrnehmung tat gut, es war ein Segen, doch nur so lange, bis sie den wahren Grund für die Veränderung erkannte: Das, was sie für eine Pistole gehalten hatte, steckte bereits auf dem Schädel des Vogels und ein Kanal, der sich in das Hirn des Vogels gebohrt hatte, stand in Verbindung mit der Flüssigkeit im Glasbehälter. Elsa verstand nicht im Mindesten, wie es zugehen konnte, sie merkte nur, dass das, was sie für ihr Bewusstsein gehalten hatte, aus dem Schädel des Vogels herausgeholt worden war. Der Doktor saugte es auf, anders konnte es sich Elsa nicht erklären, denn sie spürte ein unkörperliches Ziehen und Zerren und schließlich um sich herum ein kugelförmiges Gefängnis, in dem dieses komische Wissen um ihr eigenes Ende landete.
    Der Vogel lag schlaff da. Mit dem rechnete niemand mehr, auch Elsa nicht. Aber Elsa verabschiedete sich nicht gerne von ihm. Obwohl sie schon fast nicht mehr zu ihm gehörte, hing sie doch an ihm und wollte ihn nicht aufgeben. Sie bemerkte eine Hand mit einer weiteren verhassten Nadel, die dem Vogel in den Hals gestochen werden sollte. Es brauchte nicht viel, um zu begreifen, dass das der letzte Piekser sein sollte, der Todesstoß für das wehrlose, erschlaffte Tier. Elsa hätte es gerne verhindert. Dabei dachte sie auf einmal an Gaiuper. Gaiuper, der sie verschlungen hatte.
    Damals war sie ein Wirbelsturm gewesen aus wild kreisenden Erinnerungen, in deren Mitte sich ein Nichts befunden hatte. Ein Nichts, dessen Grenzen vielleicht – vielleicht auch nicht – die Umrisse eines Raben gehabt hatten. Nicht ihren Körper hatte Gaiuper aufgegessen, nicht ihre Erinnerungen, sondern das Nichts, das in ihr steckte. Es musste so sein, wie es Anbar einmal gesagt hatte, nämlich dass das Nichts in ihr weit mehr war als nur das Gegenteil von Etwas. Menschliche Gedanken konnten es nicht begreifen, wohl aber den Unterschied ausmachen, der zwischen dem Nichts und allem Menschlichen bestand. Die Gedanken, die Wünsche, das Fühlen – sie alle machten das Nichts in seiner Andersartigkeit erst sichtbar. Die Abgründigkeit in Elsas Augen ergab sich doch erst aus dem menschlichen Gesicht, das sie umrandete. Was würde mit der jenseitigen Dunkelheit in Elsas Augen passieren, wenn sie von ihrem Körper und ihren Gefühlen getrennt wurde? Das war es, was die Antolianer gerade mit ihr machten: Sie zerlegten sie so weit, dass nur noch das Nichts übrigblieb, sinnlos geworden ohne Bezug. Es würde zurückfallen in den Urschlund, aus dem es irgendwann einmal hervorgekommen war. So als hätte es nie existiert. Ein Schatten, dem das Licht abhanden gekommen war, und der nun umrisslos wurde. Er würde sich auflösen und wäre dann weg. Nur das Licht hatte ihm eine Form und eine Bedeutung gegeben.
    Aber noch war es nicht soweit. Der schlaffe Rabenvogel lebte noch. Elsas Gedanken, die auf undefinierbare körperliche Weise im Inneren einer kugelrunden Glasblase klebten, hatten noch

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