Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
überzeugt – eines Tages abgehauen war und nie wieder in das kleine Dorf im Wald zurückkehren würde.
Migralls Ziehmutter hieß Lauda und war sehr fromm. Ihr höchstes Ziel war es, das Kind, das sie vor mehr als achtzehn Jahren als kleines Baby im Wald gefunden hatte, zu einem gottesfürchtigen, braven Menschen zu erziehen. Es wollte ihr nicht so recht gelingen, zumindest beschwerte sie sich bei Migrall täglich darüber, wie missraten ihr Ziehkind doch war, wie undankbar und sündig in der Seele. Elsa hörte sich das alles an, ohne sich zu verteidigen oder überhaupt etwas zu erwidern. So hatte es die echte Migrall wohl auch gehalten, denn Lauda fiel keine Veränderung auf. Sehr zu ihrem Erstaunen.
„Du hast doch gesehen, wohin dein Verhalten führt! Die Leute sind sowieso misstrauisch und glauben, dass du den Teufel anbetest, du mit deinen roten Haaren und dieser lasterhaften Art, den Menschen in die Augen zu starren und sie zu verlachen. Willst du, dass sie dich das nächste Mal umbringen? Hast du denn überhaupt nichts gelernt?“
Elsa fand nicht, dass sie die Leute verlachte. Sie nahm sie aber auch nicht ernst und das merkten sie. Nach allem, was ihr zugestoßen war, hatte dieses Dorf etwas von einem Kinderspielplatz. Als sie einmal von Jungen mit Steinen beworfen wurde, die laut „Hexe, Hexe“ schrien, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, sich kurz in einen Raben zu verwandeln, einmal über ihren Köpfen zu kreisen und dann wieder zu einer lachenden Migrall zu werden, die den flüchtenden Jungen hinterherrief: „Na, erzählt ihr das jetzt euren Mamas? Die werden euch glauben, ganz bestimmt!“
Dann ging sie nach Hause und half Lauda bei der Verzierung ihrer Gebetstafeln. Sie tat es geistesabwesend, ohne viel zu denken. Sie wollte nichts, sie erwartete nichts, sie lebte das Leben der Migrall und hatte mit allem anderen abgeschlossen. Antolianer, Möwen, Ganduup, Krieg – das hatte nichts mehr mit ihr zu tun. Die Geschehnisse in der Höhle hatten sie vom Liebeskummer und allem Zurückschauen geheilt. Es war endgültig vorbei, das ganze Gerangel um ihre Person und ihr nacktes Leben, sie war weg und wollte wegbleiben. Sie war zuversichtlich, dass ihr keiner auf die Spur kam. Denn wann immer sie sich fortstehlen konnte, schlich sie in den Wald und übte. Dann steckte sie ihre Nase in den Zwischenraum und formte ein Tor. Sie konnte es jetzt, sie konnte die Grenzen zwischen den Welten durchdringen und Löcher hineinmachen. Doch sie machte nur winzige Löcher, um sie gleich danach wieder zu schließen. Diese Fähigkeit, von einer Welt in die andere zu schlüpfen, ohne Spuren zu hinterlassen, das würde ihr große Freiheit verschaffen. Eine Freiheit, die sie nicht mal zu nutzen gedachte. Sie fühlte sich wohl als Migrall, sie mochte das eintönige Leben, das Geschimpfe, den Wald und die trostlose Zukunft, die Lauda ihr prophezeite. „Du wirst dir dein Brot selbst verdienen müssen“, pflegte diese zu sagen, „denn keiner wird dich heiraten. Aber ich bringe dir bei, wie du es auf ehrbare Weise verdienst, damit du nach meinem Tod versorgt bist!“
War der Prediger im Dorf, besuchten Lauda und Migrall täglich den Gottesdienst in der kleinen Waldkapelle. Der Prediger lebte davon, dass er von Dorf zu Dorf reiste und dort versorgt wurde. Lauda schenkte ihm alles, was sie entbehren konnte, in der Hoffnung, dass ihre Seele reiner und reiner werden würde. So rein, dass sie eines Tages, wenn der Tod sie holte, zu weiß wäre, um noch auf Erden zu leben. Dann würde sie eingehen in das ewige Himmelreich und dort mit all den anderen Reinen die Himmelsspeise kosten.
„Das klingt langweilig“, sagte Migrall.
„Sei still“, schimpfte Lauda, „du beschmutzt dich, wenn du so redest.“
Migrall lachte.
„Aber, Lauda, willst du wirklich in einem reinen, weißen Himmel sitzen und tagtäglich Himmelsspeise löffeln, zusammen mit den anderen Engeln, die sich für jeden guten Witz zu schade sind?“
„Dummes Kind. Wir Menschen, du vor allem, sind zu gering, um uns den Himmel vorzustellen.“
„Oh, ich kann mir viele gute Sachen vorstellen. Wenn ich die im Himmel bekäme statt der blöden Himmelsspeise, dann würde ich’s mit der Reinheit meiner Seele mal probieren.“
„Was du haben möchtest, ist wahrscheinlich sündig und schlecht. Lass es los, bevor es dich verdirbt.“
„Was ist so schlimm daran, verdorben zu sein?“, fragte Migrall.
„Damit beleidigst du deinen Schöpfer. Er wird böse auf
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