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Rabenvieh (German Edition)

Rabenvieh (German Edition)

Titel: Rabenvieh (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Anhofer
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Erden. Den allerletzten Funken Hoffnung, den ich noch in mir hatte, war die Tatsache, dass es da noch die Sozialarbeiterin gab. Nur, wie kam ich nach Graz? Ich hatte weder Ahnung, wo sich das Gebäude befand noch wie diese Straße hieß. Ich wuchs schließlich völlig isoliert auf. Meine geografischen Kenntnisse außerhalb des Wohnortes waren demnach gleich null. Und selbst wenn ich diese Straße fände, würde sie mir glauben? Die Sozialarbeiterin kündigte ihren Besuch in der Regel frühzeitig an. Leider kam sie nur selten, vielleicht waren es zwei oder drei Mal im Jahr. Ich mochte diese Frau. Sie war mittleren Alters, immer gut gekleidet und hatte stets ein freundliches Lächeln auf den Lippen. Mir war jedes Mal nach einem Jubelschrei, wenn ich hörte, dass meine Pflegemutter meinen Pflegevater darüber in Kenntnis setzte, dass die Sozialarbeiterin zu Besuch käme. Denn das hieß für mich, für die kommenden Tage keine Schläge und sonstige Misshandlungen. Jedes einzelne Mal trug ich den Funken Hoffnung in mir, dass sich doch einmal ein Moment ergeben könnte, indem ich für kurze Zeit mit der Sozialarbeiterin allein im Raum wäre, um ihr mein Leid mitteilen zu können. Doch diesen Gefallen tat mir meine Pflegemutter zu keiner Zeit.
    Wenn die Soziarbeiterin zu Besuch kam, nahm sie in der Küche, auf der Sitzbank Platz. Links von ihr meine Pflegemutter und gegenüber von der Sozialarbeiterin auf einem Sessel saß ich. Allzeit gut gekleidet, die Haare frisch gewaschen und ordentlich gekämmt, keinerlei Verletzungen ersichtlich. Das Zimmer im Keller gab es plötzlich nicht mehr. Stattdessen gehörte mir für die Zeit ihres Besuches Friederikes Zimmer. Nach der Frage, wie es mir ginge, durfte ich nie etwas anderes, außer »gut« sagen.
    Ich wurde jedes Mal so eingeschüchtert und bedroht, dass ich es nie in Erwägung zog, nur einmal etwas anderes zu sagen. Viele Jahre hinweg blieb ich trotz alledem optimistisch, dass der Sozialarbeiterin auffallen würde, dass ich bei jedem ihrer Besuche völlig verschüchtert und stets mit geneigtem Kopf ihr gegenübersaß. Und auf jede Frage, die sie mir stellte, meine Pflegemutter antwortete. Doch irgendwann begrub ich auch diese Hoffnung. Sie schien wohl das Haus zu verlassen, im Glauben, dass alles in bester Ordnung wäre. Also, warum sollte sie mir, wenn ich sie aufsuchen würde, glauben?

    Sie war meine allerletzte Hoffnung und ich musste sie einfach aufsuchen. Koste es, was es wolle. Also machte ich mich eines Morgens auf den Weg zu ihr. Für diesen Zweck tischte ich meiner Pflegemutter Tage davor eine fiese Lüge auf. Ich erklärte ihr, dass ich etwas ganz Dringendes, was mir schon lange am Herzen läge, zu erledigen hätte. Dass es sich um ein Geschenk für sie handelte, als Dank für ihre Aufopferung in all den Jahren. Ich meinte, dass dies eine ganz besondere Überraschung wäre und alles was ich dafür benötigen würde, wäre ein bisschen Zeit. Sie kaufte mir diese Geschichte ab. Mit einem vorgegebenen Zeitlimit gestattete sie mir, das Haus zu verlassen.
    Während der Fahrt legte ich mir gedanklich alles für die Sozialarbeiterin zurecht. Ich wollte mir alles von meiner Seele reden und war guter Dinge, dass sich nun ein für alle Mal alles zu meinem Besten wenden würde. Ich war davon überzeugt, dass ich diesen Ort nie wieder betreten würde. Wie ich in die nächstgrößere Ortschaft kam, wusste ich gerade noch. Von dort aus fragte ich mich Schritt für Schritt weiter zur Jugendwohlfahrtsbehörde. Eine knappe Stunde später stand ich vor einem riesigen Gebäude Nähe der Grazer Innenstadt. Es war das Gebäude, das ich gesucht hatte. Ich war so überglücklich und ich spürte, wie mir nicht nur ein Stein, sondern gleich ein riesiger Felsbrocken von meiner Seele fiel. Ich fragte mich durch mehrere Etagen, bis ich vor dieser Tür stand, an der der Name meiner zuständigen Sozialarbeiterin zu lesen war. Ich klopfte an die Tür. Eine Stimme bat mich einzutreten. Zaghaft öffnete ich die Tür nur einen Spaltbreit, steckte meinen Kopf hindurch und spähte durch den Raum. Ich sah die Frau, die mir als meine zuständige Sozialarbeiterin vertraut war. Sie bat mich einzutreten. Verblüfft über meine Anwesenheit bot sie mir einen Sitzplatz gegenüber ihren an. Meine Hände waren feuchtkalt, sie zitterten. Alles, was ich mir auf dem Weg hierher vornahm zu sagen, schien plötzlich wie vergessen zu sein. Sie fragte mich, was ich auf dem Herzen hätte, was der Grund meines Besuches

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