Rabenvieh (German Edition)
Volljährigkeit.«
Ich traute meinen Ohren nicht. Unglaublich, was sie da von sich gab. Mit dieser Aussage setzte sie sich auf meine »Hassliste« und im Stillen schwor ich ihr, dass sie mich eines Tages noch mal wiedersehen würde. Seit meinem dreizehnten Lebensjahr führte ich eine Hassliste. Auf einem DIN-A4-Zettel standen alle jene Namen, denen ich den das schlimmste Leid wünschte. Auf dieser Liste stand an oberster Stelle meine Pflegemutter, gefolgt von meinem Pflegevater, Friederike, Sybille, einigen Nachbarn, Mitschülern, der Hausarzt und nun auch die Frau, die ich bis dahin noch mochte. Die Sozialarbeiterin. Diesen Zettel steckte ich in einen kleinen Plastiksack und vergrub ihn tief in der Erde auf einem leer stehenden Grundstück, unweit vom Haus meiner Pflegeeltern.
Das, was mir die Sozialarbeiterin soeben an den Kopf knallte, war einfach zu viel für mich. Ich erhob mich von meinem Stuhl, ging zur Tür, und ehe ich den Raum verließ, ließ ich ihr noch meinen Zorn über ihre Aussage spüren, indem ich ihr sagte: »Wenn Sie mir in meiner Situation schon nicht helfen können oder wollen, so unterlassen Sie es auch, meine Pflegeeltern darüber in Kenntnis zu setzen, dass ich Sie heute hier aufgesucht habe.« Ich verließ ihr Büro ohne weiteren Kommentar und knallte die Tür hinter mir zu. Ich stand im Flur vor dem Aufzug und brach in einen nicht mehr endenden Weinkrampf aus. Menschen, die an mir vorübergingen, starrten mich fragend an. Warum wies sie mich ab? Immerhin wusste ich, dass es Notfalleinrichtungen für misshandelte Kinder gab. Dachte sie vielleicht, ich hätte mir selbst die unzähligen blauen Flecken und Striemen zugefügt? Was war eigentlich ihre Funktion als Sozialarbeiterin? Sollte es nicht in ihrem Interesse liegen, dass es mir gut geht? Bestand ihre Aufgabe nur darin, alle heiligen Zeiten einmal bei meinen Pflegeeltern vorbeizuschauen, um in der Akte einen Vermerk machen zu können, dass sie ihren Pflichten nachkam? Tausend Fragen gingen mir durch den Kopf. Während ich auf den Aufzug wartete, ging ich nervös im Flur auf und ab und fragte mich, was ich nun tun sollte. Ich wollte weg, egal wie weit, egal wohin. Aber wie weit würde ich mit meinem bisschen Geld kommen? Und dann? Was sollte ich dann machen? Mich etwa auf die Straße setzen, um mir meinen Lebensunterhalt zu erbetteln? Mein Leben wie ein Lump zu verbringen, frierend im Winter auf einer Parkbank zu schlafen? Obwohl, schlimmer als zu Hause konnte das Leben auf der Straße auch nicht sein. Aber wie lange würde es dauern, bis mich die Exekutive aufgreifen würde? Was dann? Dann wäre ich exakt wieder dort, wo ich hoffte, nie wieder hinzumüssen. Anstatt an den Ort des Grauens zurückzufahren, schlenderte ich durch die Gassen der Grazer Innenstadt. Ich ging von Geschäft zu Geschäft, um mich nur irgendwie abzulenken. Ich befand mich aufgrund der Aussage der Sozialarbeiterin in einem regelrechten Schockzustand, dass ich das, was ich in den Geschäften sah, überhaupt nicht wahrnahm. Ich fühlte mich abgeschoben, allein gelassen, vergessen. Und soeben hatte ich auch noch den allerletzten Funken Vertrauen an die Menschheit verloren.
Schließlich fuhr ich wieder an jenen Ort zurück, bei dem ich fest der Überzeugung war, diesen niemals wieder betreten zu müssen. Mir war klar, dass mich aufgrund des um Stunden überzogenen Zeitlimits, erbarmungslose Schläge erwarteten. Der Gedanke, hier die kommenden Jahre noch verbringen zu müssen, war einfach nur haarsträubend.
Im Krankenhaus
Mit Fortschreiten der Pubertät bekam ich immer größere Probleme mit meiner Haut. Ich litt sowohl in meinem Gesicht als auch am Rücken unter ausgeprägter Akne und das phasenweise so stark, dass in meinem Gesicht kaum ein Zentimeter ohne eine entzündete Pustel war. Obwohl ich von meinen Pflegeeltern keine Erlaubnis dafür bekam, wandte mich an einen Dermatologen. Nach der Begutachtung meiner Haut verordnete mir der Arzt eine spezielle Waschemulsion sowie eine Creme. In regelmäßigen Abständen sollte ich zur Kontrolle kommen. Für meine Pflegeeltern waren meine Hautprobleme eine willkommene Gelegenheit, mich noch weiter zu erniedrigen. Ich war von nun an nicht nur mehr das »Rabenvieh«, sondern »das hässliche Rabenvieh«. Der Dermatologe hatte bei einem meiner Besuche angemerkt, dass es, sollte es in absehbarer Zeit zu keiner merklichen Besserung kommen, er es befürworten würde, mich einer stationären Behandlung zu unterziehen. Diese
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