Rabenvieh (German Edition)
Aussage nahm ich zum Anlass, dass ich eines Tages aufhörte, mich mit den verordneten Arzneien zu pflegen. Stattdessen drückte ich aus den Tuben etwas heraus und spülte es in der Toilette runter. So fiel es nicht auf, dass ich nichts davon verwendete. Ich strahlte bis über beide Ohren, als ich bei meinem nächsten Arztbesuch einen Einweisungsschein für die Dermatologische Klinik in Graz bekam. Zu Hause stieß ich, was nicht verwunderlich war, auf wenig Verständnis. Stattdessen fragte mich meine Pflegemutter, ob ich tatsächlich so vertrottelt wäre, zu glauben, dass eine Klinik an meiner hässlichen Visage etwas ändern könnte.
Bereits wenige Tage später bekam ich ein Bett in der Klinik. Ich kam in ein Zimmer, in dem ein Mädchen meines Alters mit demselben Problem und eine etwas ältere Frau mit Verbrennungen lag. Mit Laura schloss ich sofort Freundschaft und es tat gut, mit jemand sprechen und auch einmal lachen zu können. Wir beide hatten, was unser Hautproblem betraf, dieselbe Behandlung und so gingen wir immer Hand in Hand in den zweiten Stock zum Behandlungsraum. Jeder wartete auf den anderen, bis er fertig war, damit wir wieder Hand in Hand in unser Zimmer gehen konnten. Am Aufnahmetag entdeckten Ärzte bei der Untersuchung ein etwas größeres, verdächtiges Muttermal an meinem linken Oberschenkel. Am darauf folgenden Tag bei der Visite entschieden sich die Ärzte spontan, mir dieses Muttermal aus Sicherheitsgründen zu entfernen. Als ich das hörte, war mir schon wieder nach Luftsprüngen, denn ich ging davon aus, dass dies eine größere Operation wäre und mir das weitere Tage im Krankenhaus sichern würde. Die Freude darüber währte nicht lange. Am Tag nach der freudigen Verkündung entnahm man mein Muttermal während einer Lokalanästhesie in wenigen Minuten. Ich hätte nach diesem Eingriff nach Hause gehen können, wenn mein Hautproblem nicht gewesen wäre.
Ich beneidete Laura um ihre Eltern. Sie kamen sie täglich besuchen, umarmten sie liebevoll und brachten ihr immer frisches Obst und Süßigkeiten mit. Meine Pflegeeltern kamen die ganze Zeit über nicht ein einziges Mal. Ich hatte alle Mühe, meine Tränen zurückzuhalten, als Lauras Mutter eines Nachmittags an mein Bett kam und mir dieselben Süßigkeiten und dasselbe Obst überreichte, wie zuvor Laura. »Du hast auch bestimmt Wäsche zu waschen«, fügte sie hinzu.
Ich schämte mich so sehr, dass ich sofort beschwichtigte und meinte, dass ich genug Kleidung mithätte und die Sachen, die ich bis dahin getragen hatte, bereits mit der Hand im Badezimmer wusch. Ich hätte daher nichts zu waschen. Dass ich meine Kleidung im Badezimmer wusch, stimmte auch, aber es stimmte nicht, dass ich ohnehin genug mithätte. Ganz im Gegenteil, die wenigen Klamotten, die ich besaß, reichten nicht einmal für eine Woche.
Wie selbstverständlich luden mich Lauras Eltern immer wieder auf Getränke und Eis in die Krankenhauskantine ein. Jedes Mal, wenn ich ablehnte, versuchten sie gemeinsam mich zu überreden, mitzukommen. Ließ ich mich überreden, fühlte ich mich schlecht, denn ihre Eltern bezahlten für mich wie selbstverständlich und ich konnte ihnen, außer einem »Danke«, nichts zurückgeben. Ihre Eltern waren so unbeschreiblich nett zu mir, dass ich mir in meinen Träumen vorstellte, sie als Eltern zu haben. Oftmals saßen wir im Besucherraum und spielten »Mensch ärgere dich«, Halma oder Dame. Sie gaben mir das Gefühl, als Mensch etwas Wert zu sein und das Gefühl, ein Mensch zu sein, den man auch lieb gewinnen konnte. Ich war für sie kein schlimmes Mädchen, das nicht verdiente, geliebt zu werden.
Ich fühlte mich miserabel als Laura entlassen wurde. Mir fehlten unsere Gespräche und mir fehlte die Zuwendung ihrer Eltern. Bei Lauras Abschied und ihren Eltern versuchte ich nicht zu weinen – vergebens. Lauras Mutter nahm mich in die Arme. Mein Gott, sie war so warm und ich wünschte mir in diesem Moment, sie würde mich nie wieder loslassen. Ich zuckte kurz zusammen, als sie mir mit ihren Händen in mein Gesicht fuhr, um die Tränen wegzuwischen. Danach ließ sie mich los. Binnen weniger Sekunden war ich wieder in der Realität – Einsamkeit und Leere waren damit zurückgekehrt. Wir tauschten die Adressen und Telefonnummern untereinander und ihre Eltern boten mir sogar an, sie jederzeit besuchen zu dürfen.
Zweieinhalb Wochen später konnte man auch bei meinem Hautbild die ersten Anzeichen von Besserung erkennen. Jeder hätte sich
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