Rabenvieh (German Edition)
wäre. Ich wusste nicht recht, wo ich überhaupt beginnen sollte. Ich versuchte mich zu sammeln, ruhiger zu werden. Schließlich begann ich zu erzählen. Zaghaft und zunächst nur das, wofür ich mich nicht allzu sehr schämte. Erst als sich der Kloß in meinem Hals etwas zu lösen begann, schilderte ich ihr immer nähere Details. Ich spürte dabei, wie sich mit jedem Satz innere Erleichterung breitmachte. Und irgendwann machte ich auch nicht mehr vor den peinlichsten Dingen halt. Ich musste so viel wie möglich loswerden, und auch wenn ich spürte, wie mir dabei Schamesröte ins Gesicht stieg, ich konnte einfach nicht mehr anders. Um ihr mein Erzähltes in Bildern zu verdeutlichen, krempelte ich meinen Pullover bis zu den Ellbogen hoch und zeigte ihr die noch zurückgebliebenen Spuren der letzten Misshandlungen. Mein Schlussplädoyer an sie war, dass ich sie darum bat, eine andere Pflegefamilie oder einen Platz in einem Heim zu organisieren. Sie möge bitte alles tun, nur mich bitte nicht wieder dorthin zurückschicken. Ich saß da und war erleichtert. Es war in der Kürze zwar nicht alles, aber immerhin vieles gesagt. Die Schilderungen der unzähligen Martereien über all die Jahre hinweg verlangte nicht nur Mut, sondern auch einiges an Kraft ab. Das dürfte wohl auch der Grund gewesen sein, weshalb ich von einem auf den nächsten Moment so müde und erschöpft war, dass ich auf der Stelle hätte einschlafen können. Aber Zeit zum Schlafen hatte ich jetzt nicht, denn immerhin saß ich einer Frau gegenüber, die mir nun helfen und mich aus den Fängen dieser Familie befreien würde.
Nach meiner Rede wurde es ganz still im Raum. Die Verblüffung und das Erstaunen über die Vorfälle in meiner Pflegefamilie standen ihr ins Gesicht geschrieben – zumindest tat sie so. Meine Blicke schweiften immer wieder durch den Raum. Ich betrachtete dabei die Wände, sah in das mit Ordnern und Akten vollgestopfte Regal und begutachtete ihren Schreibtisch, der für meine Begriffe alles andere als aufgeräumt war. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie sie mich in all meinen Bewegungen beobachtete.
Nach einer ganzen Weile des Schweigens folgten Unmengen an Fragen ihrerseits. Sie blätterte dabei immer wieder in meiner Akte, die sie während meiner Schilderungen aus der vorletzten Schublade ihres Schreibtisches entnommen hatte. Immer wieder schüttelte sie nur den Kopf. Je länger ich dort saß, sie ansah und ihren Reaktionen folgte, umso mehr überkam mich plötzlich das Gefühl von Unsicherheit. Ich spürte, dass etwas im Raum war, was noch nicht ausgesprochen wurde. In den darauf folgenden Minuten erfuhr ich, was es war und das Schicksal schlug abermals gnadenlos zu.
Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, stieß einen tiefen Seufzer aus, verschränkte ihre Hände vor ihrer Brust und sah mich an. Sie war bemüht, ihre Worte so behutsam wie möglich zu wählen. Sie versuchte mir klarzumachen, dass es nicht möglich sei, ein 16-jähriges Mädchen in eine neue Pflegefamilie zu geben. Alle Pflege – und Adoptiveltern, die sich um ein Kind bewerben, würden ausschließlich Kleinkinder wollen. Kurzum, ich war für eine neue Pflegefamilie zu alt. Das leuchtete mir soweit auch noch ein. Aber die nächste »Ohrfeige«, die sie mir verpasste, nicht mehr. Sie sagte mir, dass von jetzt auf gleich keine Einrichtung zur Verfügung stünde.
Mir war zumute, als ob Eiswasser durch meine Adern flösse. Den Tränen nahe saß ich vor ihr, fassungslos, schweigend und ratlos. Ausgerechnet diese Frau, die die Macht hatte, mich aus der Hölle zu befreien und meinem Leiden ein Ende zu setzen, erklärte mir gerade, dass sie mir nicht helfen konnte. Doch irgendwie überkam mich das Gefühl, dass sie den Ernst der Lage nicht so richtig erkannte, und das, obwohl ich ihr meine Verletzungen von den letzten Misshandlungen zeigte. Zugegeben, meine Striemen und blauen Flecken waren nicht vom Vortag, sie waren bereits ein paar Tage alt. Trotz alledem konnte man nicht übersehen, dass es Spuren von Misshandlungen waren. Ihre Worte in den darauf folgenden Minuten kamen bei mir nicht mehr an, denn ich war zu sehr damit beschäftigt mich zu fragen, was ich nun tun sollte. Mit dieser Frage konfrontierte ich sie schließlich und die Antwort, die ich von ihr bekam, war dermaßen kaltschnäuzig und niederschmetternd, dass sie mir bis heute Wort für Wort in Erinnerung blieb. »Du hast so lange bei dieser Familie durchgehalten, das schaffst du nun auch noch bis zu deiner
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