Rabenvieh (German Edition)
die peinlichen Momente erspart bleiben, bei offener Badezimmertür nackt vor meiner Schüssel stehen zu müssen. Das Badezimmer lag genau in der Mitte des Flurs und so konnte mich jeder, der zu dieser Zeit vorbeiging, egal ob es meine Pflegeeltern, deren Töchter oder Besucher waren, mich nackt betrachten. Als ich in die Pubertät kam, meine Brüste sich formten und meine Schamhaare zu wachsen begannen, empfand ich das als ganz besonders schlimm. Einmal nahm ich mir die Freiheit, die Badezimmertür während meiner Wäsche anzulehnen und prompt wurde sie von meiner Pflegemutter mit wütendem Blick wieder aufgeschlagen.
Der lang ersehnte Moment war endlich gekommen. Ich schlich mich ins Badezimmer, um ein Glas Wasser zu holen, trug es in mein Zimmer und warf alle Tabletten, die ich Stunden zuvor aus dem Wohnzimmerschrank entnahm, ins Wasser. Es waren so viele Tabletten, dass das Wasser dabei übers Glas lief. Ich verließ noch mal das Zimmer, um nach oben in die Küche zu gehen und meinen Pflegeeltern eine gute Nacht zu wünschen. Dass ich wie so oft nichts zurückgesagt bekam, war mir an diesem Abend völlig egal. Ich ging zurück in mein Zimmer, nahm das an meinem Tisch abgestellte Glas mit den Tabletten und setzte mich auf mein Bett. Das Wasser hatte sich in der Zwischenzeit zu einer undefinierbaren Farbe verwandelt. Ich starrte ins Glas und ließ in Gedanken noch einmal mein erbärmliches Leben an mir vorbeiziehen. Ich dachte an die unzähligen Quälereien, die allesamt schon längst tiefste Spuren in mir hinterlassen hatten. Ich dachte an all meine Bemühungen, ihnen zu genügen und ich dachte an diese ganze scheinheilige Familie und wie sie sich nach außen hin allzeit im besten Licht präsentierte. Und ich stellte mir auch nochmal die Frage, ob ich in all den Jahren nicht doch etwas besser hätte machen können. Dass ich ein schlimmes Kind war, daran zweifelte ich ja ab und an noch, denn immerhin tat ich, auch wenn meine Pflegeeltern anderer Meinung waren, alles zu ihrer Zufriedenheit, aber ich zweifelte schon längst nicht mehr daran, dass ich es nicht verdiente, geliebt zu werden. Ich war schon lange davon überzeugt, dass ich ein Mensch war, den man nicht einfach lieb haben konnte.
Einen kurzen Moment schweifte mein Blick noch durch das Zimmer. Ich überlegte, ob ich nicht noch etwas vergessen hätte, in Ordnung zu bringen. Ich wusch im Badezimmerwaschbecken noch meine Unterhose und hängte diese über meinen Sessel zum Trocknen. Ich reinigte den Boden penibel sauber, faltete meine Kleidung und legte sie Kante auf Kante ordentlich auf einen Stapel. Ich ordnete meine Schulsachen, indem ich Bücher und Hefte der Farbe und Größe nach schlichtete und auf einen Stoß legte. Ich wollte einfach alles ordentlich hinterlassen.
Ich setzte das Glas an, schloss dabei meine Augen und trank diese grauslich schmeckende Flüssigkeit. Das Ganze schmeckte derartig bitter, dass ich dabei mit Würgereiz zu kämpfen hatte. Bis ich alles leer getrunken hatte, brauchte ich schließlich mehrere Anläufe. Ich stand noch einmal auf, stellte das leere Glas auf meinen Tisch und legte mich danach ins Bett. Durch diesen Cocktail, den ich mir gerade verabreicht hatte, fühlte ich mich richtig gut. Es war ein Gefühl von Freiheit, das mich überkam. Ich deckte mich bis über beide Ohren zu und genoss noch einige Minuten lang dieses wunderbare Gefühl. Müdigkeit kam auf und bald darauf schien ich eingeschlafen zu sein.
Ich erwachte. Wie lange ich geschlafen hatte, konnte ich nicht abschätzen. Ich setzte mich auf und versuchte mich zu konzentrieren, was mir äußerst schwerfiel, denn ich war völlig orientierungslos und benommen. Mein Herz raste so stark, sodass es mir kaum möglich war, normal zu atmen. Der starke Drang auf die Toilette zwang mich zum Aufstehen. Ich setzte mich zunächst auf die Bettkante und wartete etwas, bis ich mir sicher war, dass mich meine Beine auch tragen würden. Doch als ich aufstand und meinen Körper in die senkrechte Position brachte, dürfte wohl mein Blutdruck in den Keller gerast sein, denn ich sackte unmittelbar danach zusammen. Ich kroch am Boden dahin, aus meinem Zimmer und weiter in den Gemüsekeller, um dort mein kleines Geschäft erledigen zu können. Stechende Schmerzen in meiner Brust zwangen mich auf dem Weg dorthin immer wieder, kleine Pausen einzulegen. Ich hechelte wie ein Hund und dachte, dass ich jetzt auch noch elend zugrunde gehen würde. Ich lag bereits quer über dem Boden im
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