Rabenvieh (German Edition)
darüber gefreut, ich war indes todtraurig, denn das hieß, dass sie mich bald aus dem Krankenhaus entlassen würden. Auch meine Wundheilung am Oberschenkel verlief komplikationslos. Die Abende ohne Laura waren langweilig. Zwar schenkte mir Laura beim Abschied ihre Bravo-Hefte der letzten Wochen, da ich aber nicht immer Lust auf Lesen hatte, ging ich abends oftmals im Gang auf und ab spazieren. Eines Abends, als ich wieder im Gang unterwegs war, sah ich einen alleinstehenden Reinigungswagen. Die Reinigungsfrau war im Schwesternzimmer und plauderte mit der Krankenschwester. Im Gang befand sich zu diesem Zeitpunkt niemand anderes außer mir. Ich ging zu diesem Reinigungswagen, stellte mich neben ihn, und musterte die darauf stehenden Reinigungsmittel. Die meisten dieser Mittel schienen harmlos zu sein – eines jedoch stach mir ins Auge. Es war, im Gegensatz zu den anderen, fest verschlossen und machte aufgrund des knallorangefarbigen Warnzeichens den Eindruck, dass es von den Inhaltsstoffen gefährlicher schien als alle anderen. Ohne lange zu überlegen, schnappte ich es mir, steckte es in den Bund meiner Hose und zog mein T-Shirt weit nach unten. Mit schnellen Schritten eilte ich ins Zimmer. Ich legte mich ins Bett, zog die Bettdecke bis zu meinem Oberkörper hoch und begutachtete unter der Decke dieses kleine weiße Fläschchen. Das, was darauf zu lesen war, war nicht gerade aufschlussreich, aber nach dem Geruch zu urteilen, musste der Inhalt ätzend sein. Ich steckte das Fläschchen zurück in den Bund meiner Hose, verließ wenig später das Zimmer und eilte zur Toilette. Ich sperrte mich in eine Toilette ein, riss einige Blätter vom Toilettenpapier ab und träufelte die Flüssigkeit auf das Papier. Ich setzte mich auf die Toilettenschüssel, schob meinen Verband am Oberschenkel zurück und legte das mit Flüssigkeit getränkte Toilettenpapier auf meine offene Operationswunde. Hätte ich noch ein normales Schmerzempfinden gehabt, wäre ich vor Schmerz wahrscheinlich an die Decke gegangen. Aber nach all den Jahren der Folter hatte ich mich gegen körperliche Schmerzen nahezu schon unempfindlich gemacht, weshalb ich auch nur ein ganz kurzes und leichtes Brennen verspürte. Ich drückte das getränkte Toilettenpapier noch ein paar Mal fest auf meine Wunde, ehe ich es in der Toilette runterspülte. Ich schob den Verband über meinen Oberschenkel, steckte das Fläschchen wieder in die Hose und ging zurück in mein Zimmer. Ich legte mich in mein Bett und fühlte mich richtig gut, denn schließlich tat ich etwas, was mir ganz spontan einfiel, womit ich wahrscheinlich nicht so schnell nach Hause müsste. Ich wiederholte diesen Vorgang so oft, bis ich sichergehen konnte, dass man mich mit dieser hässlichen Wunde, die ich bereits am Oberschenkel hatte, nicht nach Hause schicken würde. Als Tage darauf bei der Visite davon die Rede war, mich nach Hause zu entlassen, meinte ich, dass mir meine Narbe am Oberschenkel schrecklich wehtäte. Da man meinen Verband seit der Operation nicht gewechselt hatte, sahen sich die Ärzte meine Wunde an. Sie glaubten ihren Augen nicht zu trauen, als sie sahen, dass die Wunde um ein Vielfaches größer war als ursprünglich und dass sich rund um die Wunde ein abscheulich aussehender, bläulich schwarzer Film gebildet hatte, was auf den ersten Blick so aussah, als wäre meine Haut an dieser Stelle abgefault. Vom Nachhausegehen war also keine Rede mehr. Ich war so erleichtert und hätte vor Freude am liebsten alle umarmt.
In den darauf folgenden Tagen schickte man mich von einer Untersuchung zur nächsten. Da manche Untersuchungsergebnisse erst Tage später zu erwarten waren, hatte ich somit an Zeit gewonnen. Jeder Tag im Krankenhaus war ein Gewinn. Was ich allerdings nicht wollte, dass ich eines Tages für Studenten und angehende Ärzte im Hörsaal zur Schau gestellt wurde. Ich stand dort wie vor einer Schulklasse, und alle glotzten auf meine offene Wunde am Oberschenkel. Während man auch noch zahlreiche Fotos von meinem Bein schoss, sollten einige Studenten eine Diagnose abgeben. Wenn ich etwas nicht wollte, dann war es Aufmerksamkeit. Ich wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden – nichts anderes. Ich wollte mir mit meiner zugefügten Verletzung oder besser gesagt Verätzung, lediglich noch einige Tage Krankenhausaufenthalt rausschinden. Die Untersuchungsergebnisse brachten zum Glück keine nennenswerten Ergebnisse und deshalb ging ich davon aus, dass mein Selbstverstümmelungsversuch
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